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fand man keinerlei Unterstützung. Sie war fast ganz tschechisch und deutschfeindlich. Wenn wir auf der Straße jemanden auf Deutsch nach dem Weg fragten, bekamen wir keine Antwort. Das Lazarett erhielt höchst selten von Einheimischen Liebesgaben, weil deutsche Schwestern darin pflegten. Wir waren auf das angewiesen, was uns aus der Heimat geschickt wurde. Während wir ihre Verwundeten pflegten, saßen die Weißkirchener Mädchen schön geputzt auf der Kurpromenade beim Konzert.

Schwester Margarete überlegte einen Augenblick, wo sie die neuen Helferinnen hinschicken sollte. Mich bestimmte sie für die Typhusstation. Sie telephonierte nach der Großen Reitschule, um mich dort anzukündigen. Wer mich hinführte, weiß ich nicht mehr. Wir gingen zum Hoftor hinaus und kamen an der Kleinen Reitschule vorbei zur Großen. Das war ein einstöckiges Gebäude, eigentlich nur eine geräumige Baracke. Links von der Haustür lag am Hausgang zunächst ein kleines Zimmer für den Arzt, der jeweils Nachtdienst hatte. Dahinter kam ein Schwesternzimmer. Auf der rechten Seite befanden sich das Badezimmer und ein kleiner Raum, in dem Patienten untergebracht wurden, die wegen einer andern Infektionskrankheit von den übrigen abgesondert werden mußten. Dem Eingang gegenüber führten zwei Türen in die beiden vorderen Krankensäle. Dahinter lagen noch zwei andere und je ein kleines Verschreibzimmer für den Oberarzt und die Oberschwester. Zu jedem Saal gehörte noch eine kleine Teeküche. In den beiden vorderen Krankensälen lagen je 60 schwer Typhuskranke, in den hinteren je 58. Die Genesenden wurden in die Baracken verlegt. Jeder Saal hatte einen eigenen Arzt, zwei Berufsschwestern und zwei Helferinnen; außerdem für die häuslichen Arbeiten noch zwei Wärterinnen (einheimische Mädchen) und einen Landsturmmann. Chef der ganzen Typhusabteilung war Geheimrat Boral, Schwester Anna war die Oberschwester. Ich wurde in den ersten Saal geführt, in dem ich als Helferin arbeiten sollte, und mit den Schwestern bekannt gemacht.

Schwester Loni war eine kleine, rundliche Rheinländerin mit stark gerötetem Gesicht und etwas verschwommenen Zügen, gutherzig und gesprächig. Schwester Emma war groß und schlank, meist gut beherrscht, aber von manchmal hervorbrechender Leidenschaftlichkeit. Die Schwestern begrüßten mich freundlich. Ich bekam über mein Schwesternkleid und die weiße Latzschürze noch einen weißen Ärztemantel gezogen. Den legten wir ab, wenn wir die Typhusstation verließen, um möglichst wenig Bazillen mit hinauszutragen. Außerdem stand in jedem Saal eine Schüssel mit Sublimatlösung. Darein tauchte man die Hände nach jeder Berührung mit den Kranken. Auch sonst wurde mit Desinfektionsmitteln nicht gespart.

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 235. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/254&oldid=- (Version vom 31.7.2018)