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lagen unmittelbar aneinander anschließend an der Landstraße. Um an der ganzen Front entlang zu gehen, brauchte man etwa zehn Minuten. In Friedenszeiten waren hier eine Kavalleriekadettenanstalt, das dazugehörige Offiziersgebäude und eine Oberrealschule. Nach hinten schlossen sich eine große und eine kleine Reitschule an. Außerdem waren Baracken für Lazarettzwecke neu hinzugebaut (ich erinnere mich nicht mehr genau, ob 10 oder 20). Jede enthielt zwei Krankensäle mit je 50 Betten.

Wir wurden zunächst in den Speisesaal geführt und erhielten ein kräftiges Mittagessen. Die meisten Schwestern hatten schon gespeist, nur ein paar Nachzügler waren noch da. Sie fragten uns, ob wir ihnen Post mitgebracht hätten. Tatsächlich hatte uns Fräulein Stein Briefe mitgegeben. Wir legten sie auf den Flügel, wo sich dann die Empfängerinnen das Ihre heraussuchten. Diese Briefbeförderung durch hin- und herreisende Schwestern war eine stehende Einrichtung, weil auf dem gewöhnlichen Wege viel verloren ging oder wochenlang aufgehalten wurde. Es war allerdings streng verboten, auf diese Weise die Zensur zu umgehen, die zwischen den verbündeten Staaten bestand. Aber offenbar kümmerte sich niemand um dieses Verbot.

Wenn ich mich recht erinnere, wurde uns nach dem Mittagessen eine Schlafstätte angewiesen. Irgendeine Helferin auf dem Gang wurde gerufen, sie solle mich mitnehmen. Sie zeigte mir in einem großen Schlafsaal ein freies Bett. Das sollte ich mir zurechtmachen. Außerdem sagte sie mir noch in den wenigen Minuten, die sie für mich übrig hatte, ich würde wohl bald die Angina bekommen, die bekämen alle am Anfang. Es schien mir wenig verlockend, in dieser Umgebung krank zu werden. Freundlicher war der Eindruck, als endlich Schwester Oberin Zeit fand, uns zu begrüßen. Sie ließ uns in ihr Amtszimmer rufen. Das war ein heller, großer Raum, der mit seinem soliden Schreibtisch und Blumenschmuck ganz friedensmäßig aussah. Schwester Margarete war ein kleines, aber kräftiges Persönchen, wenig über 30 Jahre alt; das Gesicht unter dem weißem Häubchen war gut und freundlich, ihr Wesen einfach, natürlich und anspruchslos, aber fest und bestimmt. Vor dem Krieg war sie Gemeindeschwester in einer ländlichen Gemeinde in Schlesien. Wie die meisten Schwestern hier gehörte sie der Berufsorganisation an. Sie hatte das Lazarett unter den schwierigsten Verhältnissen mit wenigen Hilfskräften eingerichtet. Ehe sie noch das Nötigste zur Hand hatte, kam schon der erste Transport von Cholerakranken. Nun hatte sie eine Schar von 150 Schwestern und Helferinnen zu leiten, dazu den schwierigen Verkehr mit einem tschechischen Direktor, den Ärzten, der Militärkanzlei. Bei der Bevölkerung

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 234. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/253&oldid=- (Version vom 31.7.2018)