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Herzlichkeit – es verriet doch eine große Herzensgüte, daß er so um mich besorgt war – ließ mich aber in meinem Entschluß nicht im mindesten beirren.

Nicht lange vor meiner Abreise traf ich einmal bei Nelli Courant mit Susanne Mugdan zusammen. Sie war mit Richard befreundet; ihre Mutter hatte ihn während seiner Studienzeit wie einen Sohn bei sich aufgenommen, obgleich sie selbst zwei Söhne und zwei Töchter hatte. Bertha, die ältere, hatte später Richards Freund, den Altphilologen Julius Stenzel, geheiratet. Er und Suses Zwillingsbruder Albrecht waren jetzt im Feld. Sie selbst war ein ernster und grüblerischer, überaus zart und tief empfindender Mensch. Sie hatte das Lehrerinnenexamen gemacht und einige Zeit unterrichtet. Da es sie aber nicht ganz befriedigte, hatte sie das Abitur nachgeholt und studierte jetzt Chemie an der Technischen Hochschule in Breslau. Als sie hörte, was ich vorhatte, faßte sie es sofort als eine Mahnung für sich auf, sich auch zur Verfügung zu stellen. Wenige Wochen nach meiner Abreise folgte sie mir nach Weißkirchen.

Ehe ich abfuhr, ließ mich Erna in die Frauenklinik kommen und machte mir die Schutzinjektion gegen Typhus und Cholera. Viele Leute reagierten darauf einige Tage lang mit richtigen, fieberhaften Erkrankungen, aber mir machte es nichts.

Die Lazarette in Böhmen und Mähren waren überwiegend in der Hand der deutschen Schwestern. Die Berufsorganisation deutscher Krankenschwestern hatte es übernommen, sie einzurichten, und das schlesische Rote Kreuz versorgte sie mit Helferinnen. Eine Dame in Breslau, Fräulein Gertrud Stein, hatte diese Vermittlung in der Hand. Sie kam zur Bahn, als ich am 7. April 1915 früh um 6 Uhr abreiste, machte mich mit zwei andern Helferinnen bekannt, die aus Sachsen kamen und mit mir zusammen nach Weißkirchen fahren sollten und überreichte uns unsere Abzeichen: Die Helferinnenbrosche aus Email, ein schwarzes Schleifchen mit einem roten Kreuz auf weißem Feld in der Mitte. Die beiden Gefährtinnen aus Sachsen waren junge Mädchen, die eine aus guter Bürgerfamilie, die andere etwas einfacher, beide – wenn ich mich recht erinnere – Haustöchter ohne Beruf. Natürlich waren wir alle gespannt auf unser neues Betätigungsfeld. In der Mittagsstunde waren wir am Ziel. Wir nahmen am Bahnhof einen Wagen und fuhren zum Lazarett. Es lag ziemlich weit außerhalb der Stadt. Mährisch-Weißkirchen war ein nettes Städtchen. Am Marktplatz steinerne „Lauben“ (Arkaden), wie ich sie aus alten Städten in Schlesien und Böhmen kannte; unter den Bogen Verkaufstische, die aus den dahinterliegenden Läden herausgeschoben waren. Vor dem Tor eines langgestreckten Gebäudes hielt unser Wagen. Drei große Häuser

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 233. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/252&oldid=- (Version vom 31.7.2018)