Seite:Edith Stein - Aus dem Leben einer jüdischen Familie.pdf/251

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

mich davor auch nicht schützen können. Das war freilich eine Plage, vor der mir sehr graute – aber wenn die Leute im Schützengraben alle darunter leiden mußten, warum sollte ich es besser haben als sie? (N.B. Die Entlausung in Weißkirchen war so gut organisiert, daß mir diese Prüfung erspart blieb. Ich habe nur gelegentlich auf der Wäsche der Leute – und zwar auf frischer Wäsche, die gerade aus dem Schrank ausgegeben wurde, einige Tierchen zu sehen bekommen). Als dieser Angriff gescheitert war, erklärte meine Mutter mit ihrer ganzen Energie: „Mit meiner Einwilligung wirst du nicht gehen“. Ich entgegnete ebenso bestimmt: „Dann muß ich es ohne deine Einwilligung tun“. Meine Schwestern fuhren förmlich zusammen bei dieser schroffen Antwort. An einen solchen Widerstand war meine Mutter nicht gewöhnt. Arno oder Rosa hatten ihr wohl oft schon viel schlimmere Worte gesagt. Aber das geschah in Zornesausbrüchen, in denen sie sich selbst nicht kannten, und war schnell wieder vergessen. Hier aber ging es wirklich hart auf hart. Meine Mutter sagte nichts mehr und war einige Tage sehr schweigsam und bedrückt – eine Stimmung, die sich immer auf das ganze Haus zu legen pflegte. Als ich aber dann anfing, meine Vorbereitungen zu treffen, übernahm sie es wie selbstverständlich, für die erforderliche kleine Schwesternaussteuer zu sorgen. Frieda, die sich am besten darauf verstand, mußte die nötigen Einkäufe und Näharbeiten machen.

Ehe ich mit meinem Kriegsdienst begann, mußte ich noch einen Besuch im Provinzialschulkollegium machen, um meine Meldung zum Graecum zurückzuziehen, oder vielmehr zu sagen, daß ich den Termin auf ungewisse Zeit verschieben müsse. Der Dezernent für die humanistischen Gymnasien, Geheimrat Thalheim, war ein gefürchteter Mann, ernst und streng. Als er den Grund der Verschiebung hörte, war er sichtlich unzufrieden, sagte aber zunächst nichts. Erst als ich schon im Hinausgehen war, rief er mich noch einmal zurück. „Sind denn Ihre Eltern einverstanden?“ „Mein Vater ist schon lange tot. Meiner Mutter ist es nicht recht“. Jetzt fuhr er lebhaft auf. (Er hatte selbst eine Tochter in meinem Alter. Ich kannte sie von der Schule her). „Freilich ist es ihr nicht recht. Ich habe Ihnen ja nichts zu sagen. Aber da Sie keinen Vater mehr haben, fühle ich mich doch verpflichtet, Sie zu warnen. Wissen Sie denn, wie es in den Lazaretten zugeht?“ Ich wußte es nicht; aber wenn es war, wie er es andeutete – daß man sich sittlichen Gefahren aussetzte und daß die Schwestern in einem schlechten Ruf standen – dann war das ja furchtbar traurig, und ich fand es nun erst recht nötig, daß Menschen mit einer ernsten Auffassung in diese Stellen kämen. So dankte ich dem Herrn Geheimrat mit aufrichtiger

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 232. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/251&oldid=- (Version vom 31.7.2018)