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Lange wollte ich meinen Besuch nicht ausdehnen. Am Samstag war ich gekommen, und am Mittwoch nachmittag, zu Husserls Seminar, war ich pünktlich wieder zur Stelle. Er legte Wert darauf, daß man seine Übungen regelmäßig besuchte; jetzt, wo so wenige von seinen alten Schülern da waren, noch mehr als sonst. Ich hatte ihn nach der Prüfung noch nicht wieder gesehen und ging am Schluß zu ihm ins Direktionszimmer, um zu fragen, wann ich ihn besuchen und etwas Näheres über meine Arbeit hören dürfte. Der sonst so freundliche Meister war merklich verstimmt. Ich hatte einen Fauxpas begangen, indem ich nicht sofort nach der Prüfung zu ihm ging. Nun erklärte er mir, er hätte mir viel zu meiner Arbeit sagen wollen, aber nun habe er es vergessen. Zur Doktorarbeit reiche sie noch nicht aus (Das war mir auch nie in den Sinn gekommen). Und da ich in Geschichte und Literatur so ausgezeichnet bestanden habe, könne ich mir ja noch überlegen, ob ich den Doktor nicht lieber in einem dieser Fächer machen wolle. Schwerer hätte er mich nicht kränken können. „Herr Professor“, sagte ich ganz empört, „es kommt mir nicht darauf an, mir mit irgendeiner Doktorarbeit den Titel zu erwerben. Ich will die Probe machen, ob ich in Philosophie etwas Selbständiges leisten kann“. Das schien ihn zur Besinnung zu bringen. Sein Ärger war auf einmal verflogen; in ganz verändertem Ton sagte er: „Jetzt müssen sie sich erst einmal richtig erholen, Fräulein Stein. Sie sehen ja ganz angegriffen aus“. Ich war noch nicht so schnell versöhnt und verabschiedete mich. Am nächsten Tag wartete er nach seiner Vorlesung vor der Tür des Hörsaals auf mich. Seine Frau ließe mich herzlich grüßen und für Sonntag nachmittag zum Kaffee einladen. Wir mußten doch die bestandene Prüfung etwas feiern. Fräulein Gothe, Fräulein Reinach und Weigelt seien auch eingeladen. Wenn ich noch jemanden anders gern dabeihätte, sollte ich es nur sagen.

Vor dem Sonntag machte ich noch meine Abschiedsbesuche bei Lehmann und Weißenfels. Beide sprachen mir noch einmal ihre Zufriedenheit aus. Weißenfels verriet mir, daß der Prüfungsvorsitzende gegen das Prädikat „Mit Auszeichnung“ Einwendungen erhoben habe, weil ich es durch den Fortfall der Prüfung in allgemeiner Bildung besonders leicht gehabt hätte. Die Examinatoren aber wollten darauf bestehen, daß ich die Note l bekäme. Husserl versicherte mir am Sonntag lachend: „Tatsächlich enthielt das Zeugnis als Ergebnis der schriftlichen und mündlichen Prüfung den Vermerk: „Mit Auszeichnung bestanden“.


Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 230. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/249&oldid=- (Version vom 31.7.2018)