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und das mochte ich nicht. Ich antwortete also zunächst diplomatisch: „Das kommt darauf an, was man unter ,Militarismus’ versteht“. Weißenfels lachte laut auf. Lehmann aber sagte mir geduldig seine Definition: Von Militarismus spreche man, wo ein stehendes Heer in Friedenszeiten gehalten werde. Unter dieser Voraussetzung konnte ich nun unbedenklich zugeben, daß es berechtigt sei, von preußischem Militarismus zu reden. Danach mußte ich die Gründe angeben, aus denen man sich in England bisher so sehr gegen den Militarismus gewehrt habe. Jetzt waren wir in glattem Fahrwasser, und es ging Schlag auf Schlag weiter, bis es sechs Uhr war.

Draußen erwartete mich Pauline Reinach. Sie führte mich zunächst zu „Kron und Lanz“, um mich nach der geschlagenen Schlacht mit Kaffee und Kuchen zu stärken. An einem benachbarten Tisch saßen der Mathematiker Landau und der Psychologe Katz. Nach ein paar Minuten kam Katz zu uns herüber und sagte, Herr Professor Landau habe ihm erzählt, er habe mich soeben noch im Gymnasium gesehen, ich müsse wohl eben Examen gemacht haben. Nun wollte er mir gleich gratulieren. Das ließ ich mir natürlich gern gefallen. An diesem Abend sollte ich bei Gronerweg essen. Unterwegs habe ich wohl an der kleinen Post in der Wendenstraße das Telegramm mit der Freudenbotschaft nach Breslau aufgegeben. Pauline mußte mich noch ein wenig in ihrem Zimmer unterhalten, weil Erika und Liane mit ihren Vorbereitungen im Eßzimmer noch nicht fertig waren. Als wir schließlich zum Nachtessen gerufen wurden, brannten an meinem Platz viele kleine Kerzen in einem gemalten Holzreifen, wie man ihn für Geburtstagskuchen hat; rings herum lagen Veilchensträuchen. Frau Gronerweg hatte für ein Festmahl gesorgt. Erika saß mir gegenüber und ihre dunklen Augen strahlten vor Liebe und Freude.

Am nächsten Tag fuhr ich nach Hamburg. Meine Schwester Rosa war gerade für einige Wochen bei Else, und beide waren froh, daß ich zu ihnen kam, um sie an meiner Freude teilnehmen zu lassen. Hier erhielt ich auch die Glückwünsche aus Breslau. Der Brief meiner Mutter enthielt jene Stelle, die ich früher einmal erwähnte: sie würde sich noch mehr freuen, wenn ich daran denken wollte, wem ich diesen Erfolg verdankte. Aber so weit war ich noch nicht. Ich hatte in Göttingen Ehrfurcht vor Glaubensfragen und gläubigen Menschen gelernt; ich ging jetzt sogar mit meinen Freundinnen manchmal in eine protestantische Kirche (die Vermischung von Politik und Religion, die dort in den Predigten vorherrschte, konnte mich freilich nicht zur Kenntnis eines reinen Glaubens führen und stieß mich auch oft ab); aber ich hatte den Weg zu Gott noch nicht wiedergefunden.

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 229. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/248&oldid=- (Version vom 23.8.2016)