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in seinen „Essay“ und „Treatise“ Auskunft geben sollte. Ich hatte den Essay gar nicht, den Treatise nur teilweise gelesen, ging aber mutig an den Vergleich heran. Diese geistigen Akrobatenstücke machten mir sogar Freude, sie kosteten aber eine große Anspannung, und ich war froh, als Husserl endlich zur Logik überging. Zum Schluß kamen noch einige harmlose Fragen aus der Geschichte der Pädagogik. Fünf Viertelstunden hatte ich standhalten müssen. Als ich den schmalen Feldweg vom Albanikirchhof zur Schillerstraße entlang ging, lag Erika schon mit halbem Leibe zum Küchenfenster heraus und winkte mir mit beiden Armen entgegen. Das Mittagessen war fertig und vortrefflich gelungen, das Tischlein für uns beide gedeckt, und während wir uns beide stärkten, mußte ich getreu den Gang der Schlacht von Anfang bis zu Ende erzählen.

Ich war ziemlich erschöpft, hatte aber noch keine Zeit, müde zu sein, denn nachmittags um 5 kam der letzte Akt, die Geschichtsprüfung. Diesmal sollte Weißenfels Beisitzer sein. Da er sich etwas verspätete, begann Lehmann zunächst mit dem griechischen Text. Es war wie immer der Anfang der Anabasis, den ich auswendig wußte. Als Weißenfels hereinkam, empfing ihn der Prüfende mit den Worten: „Die Dame weiß sehr gut Bescheid im Griechischen“. „Die Dame weiß überhaupt sehr gut Bescheid“, kam es mit gemütlichem Lachen zurück. Dann ging es weiter. Eine kurze Frage über die Perserkriege. Nun kam etwas Überraschendes: „Was halten Sie für Hannibals größte Tat?“ Darüber hatte ich noch nie nachgedacht. Ich wußte auch nicht, daß es eine beliebte Frage war und daß Lehmann als Antwort wollte: „Den Alpenübergang“. Ich überlegte einen kleinen Augenblick und sagte dann mit großer Bestimmtheit: „Daß er den Kriegsschauplatz nach Italien verlegt hat“. Jetzt war wohl Lehmann überrascht. Er merkte daran wahrscheinlich, daß ich mich nicht darum bemüht hatte, mir eine Sammlung früherer Examensfragen mit den dazugehörigen Antworten zu verschaffen und einzuprägen, sondern daß ich ganz unbefangen nachdachte und urteilte. So ließ er meine Antwort gelten und brachte mich durch eine kleine Zwischenfrage auf den Alpenübergang; darüber wußte ich aus Livius ganz genau Bescheid. Die alte Geschichte war nur Vorspiel. Nun ging es an Lehmanns eigentliche Arbeitsgebiete, aus denen ich die meinen gewählt hatte. Wieder kam ein überraschender Anfang: „Wie steht es mit dem Vorwurf des preußischen Militarismus?“ Ich dachte: „Wie nett! Jetzt denkt er daran, daß ich neulich bei meinem Besuch gesagt habe, es wäre mir lieber, ein politisches Gespräch zu führen als mich prüfen zu lassen“. Die Frage selbst aber war brenzlich. Sie klang wie eine Aufforderung zur Kritik an den bestehenden Zuständen,

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 228. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/247&oldid=- (Version vom 31.7.2018)