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sich von Husserl geben zu lassen. Damit war die mündliche Prüfung so weit wie nur möglich vereinfacht. Es gab damals neben der Prüfung in den eigenen Spezialfächern noch eine in „allgemeiner Bildung“, die Philosophie, Deutsch und Religion umfaßte. Philosophie und Deutsch fielen für mich fort, weil es meine Fächer waren; Religion, weil Juden darin nicht geprüft wurden. So blieb es mir erspart, „allgemeine Bildung“ nachzuweisen. Ich brauchte mich nur in meinen Spezialfächern prüfen zu lassen; allerdings, da ich alle für Oberstufe haben wollte, in jedem eine ganze Stunde. Als Spezialgebiet in Deutsch gab ich Lessing an. Ich hatte seine Werke gut durchgearbeitet und auch Weißenfels’ Lessing-Kolleg. Dieses hatte ich zwar nicht selbst gehört, aber eine Nachschrift davon geliehen bekommen, meine Schwester Frieda hatte sie in den Ferien für mich abgetippt. Ich mußte noch angeben, was ich an mittelhochdeutschen Epen gelesen hatte. Es war eine ganz stattliche Anzahl, darunter der „Meier Helmbrecht“ von Werner dem Gartenaere, den ich aus einem Breslauer Kolleg gut kannte und der mir in Göttingen schon zur Aufnahme ins Seminar verholfen hatte.

Sehr ergötzlich fand ich den Besuch bei Max Lehmann. Der alte Mann hatte es damals sehr schwer in Göttingen. Als alter Liberaler und begeisterter Englandfreund litt er sehr unter dem Krieg mit England. Die fürchterliche Grußformel „Gott strafe England!“, die damals in gewissen Kreisen aufgekommen war, regte ihn immer wieder von neuem auf. Er stand aber in seiner Fakultät fast allein mit seiner Überzeugung und war bei den Kollegen „unten durch“. Über all das sprach er ganz offen mit mir. Sein ganzer Trost war sein Seminar. Ohne diese schönen Montagabendstunden wäre es kaum auszuhalten. Er äußerte sich auch sehr kritisch über die Haltung der deutschen Regierung. Als ich mich verabschiedete, sagte er: „Am Freitag werden wir uns nicht über diese Dinge unterhalten“. „O, das wäre mir aber viel sympathischer als das andere“, antwortete ich lächelnd. Meine Spezialgebiete hatte er sich auf meine Visitenkarte notiert. In der Prüfung hielt er sie in der Hand, um ja bei der Stange zu bleiben. Daß ich auch für griechische und römische Geschichte ein Spezialgebiet haben sollte, merkte ich erst daraus, daß Lehmann sich danach erkundigte. Ich ließ mich aber dadurch nicht einschüchtern, sondern nannte sofort die Punischen und die Perserkriege, weil mir diese Entscheidungskämpfe von der Schule her noch am besten in Erinnerung waren. Besonders die Punischen Kriege waren mir aus unserer jahrelangen Liviuslektüre vertraut. In den nächsten Tagen las ich noch eifrig in Mommsens Römischer Geschichte, um meine Kenntnisse aufzufrischen und mir einen großen Überblick zu verschaffen.

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 226. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/245&oldid=- (Version vom 31.7.2018)