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hinuntergehen und in das große Büffet hineinlangen; es fand sich immer, was ich gerade brauchte.

In Husserls Seminar war es ziemlich leer in diesem Winter. Anfangs fand sich von alten Bekannten nur der Germanist Günther Müller wieder ein. Während des Semesters kam noch der Pole Roman Ingarden. Er hatte in der Polnischen Legion gestanden, mußte aber wegen eines Herzfehlers entlassen werden. Früher hatte er sich an seine Landsleute gehalten. Jetzt war er allein und freute sich, wenn er ein paar Worte mit uns sprechen konnte. Zwei neue Leute waren aufgetaucht, dabei einer, der Philosophie als Fach hatte und zielbewußt auf die akademische Laufbahn lossteuerte: Helmut Pleßner. Mit ihm kam ich auch manchmal außerhalb der Universität zusammen. Ich hatte damals als Vertreterin von Frau Dr. Reinach und Nelli Courant die Berufsberatungsstelle für Studentinnen übernehmen müssen. Diese Stelle war vom Verein „Frauenbildung -Frauenstudium“ eingerichtet und brachte mich in Verbindung mit der Vereinsvorsitzenden, Frau Justizrat Steinberg. An das Ehepaar Steinberg wurde nun auch Herr Pleßner von seinen Eltern empfohlen, und die freundlichen Leute machten es sich zum Vergnügen, uns manchmal zusammen zum Mittag- oder Abendessen einzuladen. Sie hörten andächtig zu, wenn die beiden Philosophen beim Gänsebraten unverständliche Gespräche führten. Ich mußte später immer lächeln, wenn ich an diese Einladungen dachte. Denn es kam mir nachträglich der wohl nicht unbegründete Verdacht, die gute Justizrätin habe wohl gehofft, es werde sich in ihrem gastlichen Hause ein Pärchen zusammenfinden. Uns beiden aber lag nichts ferner als das. Wenn Herr Pleßner mich aus dem alten Bürgerhause im Innern der Stadt zur Schillerstraße hinausbegleitete, entwickelte er mir sein „System“ und suchte mir zu erklären, in welchen Punkten er nicht mit Husserl gehen könne, aber es war ihm noch nicht gegeben, sich verständlich zu machen.

Einige Wochen vor Weihnachten stellten wir unsere Weihnachtspakete ins Feld zusammen. Die Gaben wurden mit der größten Liebe ausgesucht, aus den Konditoreien die erlesensten Leckerbissen zusammengeholt. In jedes große Paket kamen viele kleine, einzeln in schönes Papier gehüllt und mit bunten Seidenbändern umwickelt. Reinach bekam lauter goldgelbe Bänder, Kaufmann violette, Hans Gothe, der zur Jugendbewegung gehörte, Bauernbänder: schwarz mit bunten Blümchen darauf. Das Schwerste war die äußere Umhüllung: es war Vorschrift, daß alles in Sackleinwand eingenäht werden müsse. In Paulines Zimmer lagen wir bis nach Mitternacht auf dem Boden, um diese Arbeit kunstgerecht zu erledigen. Als ich dann allein über den dunklen Kirchhof heimging, begegnete mir

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 224. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/243&oldid=- (Version vom 31.7.2018)