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war. Jetzt im Winter konnte man von hier aus Sonnenaufgang und Sonnenuntergang sehen. Der mächtige Eichenschreibtisch war so vor die Fenster gerückt, daß man beim Arbeiten die Aussicht vor sich hatte. Rechts neben dem Schreibtisch stand an der Wand eine Chaiselongue, darüber hing Rembrandts „Mann mit dem Goldhelm“. Die andern Wände waren mit Büchern bestellt. Es war nicht nur mathematische Fachliteratur, sondern vieles dabei, was ich brauchen konnte. In der Ecke zwischen den beiden Bücherwänden stand ein rundes Tischchen. Das benützte ich abends als Eßtisch.

Natürlich mußte ich jemanden haben, der die Zimmer reinhielt; außerdem hatte ich für die Bedienung der Zentralheizung zu sorgen, da Pabsts ihre Heizkörper abgestellt hatten und Öfen benützten. Nelli hatte mir dafür ihre Aufwärterin, Frau Hartung, empfohlen, die ihr volles Vertrauen besaß. Ich bestellte sie durch eine Postkarte, und sie erschien zu einer Besprechung: eine stattliche Dame, groß und mächtig breit, so daß ich ganz daneben verschwand. Sie ließ sich auf die Chaiselongue nieder und erklärte, da Frau Doktor es wünsche, müsse sie dies ja übernehmen. Auf die Heizung verstand sie sich noch nicht. Nachmittags kam sie mit ihrem Mann wieder, um sich von ihm die Behandlung des Kessels erklären zu lassen. Auch das Ehepaar Pabst fand sich zu dieser Beratung ein, und ich kam mir sehr wichtig da unten im Keller vor, da eine ganze Versammlung sich darum bemühte, mir für die nötige Wärme zu sorgen. Von nun an kam Frau Hartung jeden Morgen, ehe der Tag graute. Ich hörte es oben in der Heizung, wenn sie unten das Feuer anmachte; das war für mich das Zeichen zum Aufstehen. Dann begab sie sich in die Küche und kochte für mich Kaffee; Milch und Brötchen brachte sie mit. Während ich frühstückte, machte sie das Arbeitszimmer fertig, so daß ich mich dann sofort an den Schreibtisch setzen konnte. Ich hörte sie noch eine Weile nebenan im Schlafzimmer herumwirken. Dann verabschiedete sie sich, und ich war für den Rest des Tages allein. Öfters klingelte es unten, und es kamen Angelegenheiten, die Courants betrafen. Wenn ich keinen Bescheid wußte, holte ich mir in Breslau Weisungen. Sonst erledigte ich die Sachen, wie es mir am besten schien. Nelli war sehr dankbar dafür, und ihr Vater erklärte, sie brauche keinen Rechtsvertreter in Göttingen, solange ich da sei. Öfters bat sie mich, ihr etwas von ihren Sachen zu schicken, und vielleicht noch häufiger hatte Richard Wünsche. Ich erfüllte sie immer so schnell wie möglich, und eines Tages schrieb er, da er von mir alles so viel schneller bekäme als aus Breslau, werde er sich jetzt immer an mich wenden, wenn er etwas brauchte. Es waren manchmal erstaunliche Dinge, die er verlangte, und mitunter kostete es ziemlich viel Zeit und Mühe,

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 220. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/239&oldid=- (Version vom 31.7.2018)