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trat er aber nicht nur aus Gerechtigkeit ein, sondern aus persönlichen Gründen. Bell war mit seinen beiden Söhnen Wilhelm und Bernhard befreundet. Es war wohl eine Art Führerverhältnis, denn er war ganz erheblich älter als sie. Die beiden Brüder waren in das Göttinger Freiwilligenregiment eingetreten, und Bernhard war 17jährig in Flandern gefallen. Seine Eltern erhielten seine Briefe; darunter auch die, die ihm Bell ins Feld geschrieben hatte. Daraus sahen sie erst, wie liebevoll er sich um ihn angenommen hatte und sahen ihn nun selbst wie einen Sohn an.

Nach jenem Besuch im Karzer hörte ich einige Monate nichts mehr von Bell. Im Januar begegnete ich ihm plötzlich auf der Straße. Er machte mit Runge einen Spaziergang, ich hatte Erika Gothe bei mir. Er kam von der andern Straßenseite zu uns herüber und erzählte von seinen jüngsten Erlebnissen. Man hatte ihn nicht lange in dem freundlichen Karzer gelassen. Seine „Freunde“, die Philologen, fanden, daß er kein Anrecht auf diesen Aufenthalt habe, da er ja von der Universität verwiesen sei. Er wurde nun ins Gefängnis nach Hannover gebracht. Dort aber brauchte er auch nur zwei Wochen zu bleiben. Professor Runge hatte eine Eingabe gemacht und sich die Erlaubnis erwirkt, ihn in sein Haus aufzunehmen. Er selbst leistete Bürgschaft für ihn, in seiner Begleitung durfte er auch ausgehen. Doch auch diese glückliche Lösung dauerte nicht lange. Einige Wochen später wurde die Internierung aller Kolonialengländer verfügt. Bell kam in das große Konzentrationslager nach Ruhleben und mußte bis zum Ende des Krieges dort bleiben.


5.

Ich war in der zweiten Oktoberhälfte nach Göttingen gekommen. Nelli hatte mir ihre Wohnung mit allem Hausrat zur Verfügung gestellt. Da sie selbst keinen Genuß davon haben konnte, sollte ich mich daran freuen. Ich ließ also meine Sachen von der Schillerstraße 32 nach Nr. 42 bringen. Es war ein ziemlich neues, zweistöckiges Häuschen. Im Erdgeschoß wohnte das Ehepaar Pabst, dem das Häuschen gehörte. Den ersten und zweiten Stock hatten Courants gemietet. Das war nun mein Reich. Im ersten Stock waren Speisezimmer, Empfangzimmer, Nellis Arbeitszimmer und Küche. Von diesen Räumen benützte ich nur die Küche. Mein Aufenthalt wurde der Oberstock: Richards Arbeitszimmer und das danebenliegende Schlafzimmer. Beide hatten die großen Fenster nach Süden mit freiem Ausblick über Gärten und Felder nach den „falschen Gleichen“, einem Hügelpaar, das den „richtigen“ Gleichen ähnlich

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 219. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/238&oldid=- (Version vom 31.7.2018)