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Familie und von ihren Freunden „Putti“ genannt) hatte etwas von der mathematischen Begabung ihres Vaters geerbt, hatte auch studiert und das Staatsexamen gemacht, war aber dann nicht in den Schuldienst gegangen, sondern zum Musikstudium nach Leipzig. Unter dem Göttinger Professorennachwuchs war sie ähnlich tonangebend wie ihr Vater unter den „Bonzen“, allerdings nicht durch gebieterisches Wesen, sondern durch Anmut, Geist und Liebenswürdigkeit. Sie und ihr Verlobter waren mit Reinachs befreundet und trafen sich öfters bei ihnen. Ehe Staiger ins Feld mußte, ließen sie sich kriegstrauen. Nun war er nach wenigen Wochen gefallen.

Diese Nachricht brachte mir Nelli Courant zugleich mit einer andern, die sie in der „Schlesischen Zeitung“ gefunden hatte. Dieses konservative Blatt brachte eine abfällige Notiz über die „vaterlandslose Gesinnung“ einiger Göttinger Professoren. Sie hätten sich zu einem Engländer, der wegen deutschfeindlichen Äußerungen in Schutzhaft war, begeben, um ihm die mündliche Doktorprüfung abzunehmen. Der „deutschfeindliche Engländer“ war unser Freund Bell, die „vaterlandslosen Professoren“ unser alter Meister Husserl und die beiden Kollegen, die Bell in den Nebenfächern zu prüfen hatten. Ihre Namen waren alle angeführt. Ich war sofort überzeugt, daß es sich um eine Entstellung der Tatsachen handle, und wollte mir Aufklärung verschaffen. Ich schrieb an Bell, welche „Schauermär“ wir gelesen hätten, und bat ihn um Mitteilung des wahren Sachverhalts. Die Antwort trug den Stempel der Polizeidirektion Göttingen und kam aus dem Gefängnis. Bell war als Kanadier zunächst in Freiheit geblieben. (Die Kolonialengländer wurden erst Anfang 1915 interniert). Eines Tages kam ein Bekannter (ein Deutscher) an seiner Wohnung vorbei und fragte ihn zum Fenster hinauf – das war echt Göttinger Stil, aber bei der Gemütsverfassung des Volkes in den ersten Kriegsmonaten höchst unvorsichtig –: „Was sagen Sie zur japanischen Kriegserklärung?“ Bell antwortete ebenso unüberlegt zum Fenster hinaus: „Für uns ist sie natürlich sehr vorteilhaft“. Eine vorübergehende Dame hörte das, geriet in die größte Erregung, erstattete sofort Anzeige. Dabei wurde die Äußerung erheblich entstellt, so daß sie als deutschfeindliche Kundgebung erschien. Bell wurde in Schutzhaft genommen, durfte aber in seiner Wohnung bleiben. Da er sie nicht verlassen durfte, konnte er sich auch nicht an dem festgesetzten Prüfungstage in die Universität begeben, und seine wohlwollenden und teilnahmsvollen Lehrer beschlossen, die Prüfung in seiner Wohnung vorzunehmen.

Damit erregten sie heftigen Anstoß bei ihren nationalistischen Kollegen, es wurde eine Fakultätssitzung einberufen, die Prüfung wurde für ungültig erklärt und sogar auch die Annahme der Arbeit,

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 217. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/236&oldid=- (Version vom 31.7.2018)