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durch Herumlaufen und unnützes Gerede die allgemeine Aufregung zu vermehren. Es hat mich immer gefreut, wenn ich bei Homer las, wie Hektor seine Gattin ins Haus und an ihre Arbeit weist, nachdem er von ihr und seinem Söhnlein für immer Abschied genommen hat.

So saß ich am 30. Juli nachmittags um 4 Uhr an meinem kleinen Schreibtisch und vertiefte mich in Schopenhauers „Die Welt als Wille und Vorstellung“. Um 5 Uhr wollte ich noch eine Vorlesung besuchen. Da klopfte es an meine Tür, und Fräulein Scharf kam mit ihrer Freundin, Fräulein Merk, auch einer Schlesierin, herein. Sie berichteten, daß ich mir den Weg sparen könnte. Es sei ein Anschlag am Schwarzen Brett, daß der Kriegszustand erklärt sei und alle Vorlesungen aufhörten. Sie beide wollten heute abend heimfahren. Während wir noch sprachen, klopfte es zum zweitenmal. Es war Nelli Courant. Richard hatte seinen Stellungsbefehl bekommen. Wenn die Mobilmachung angeordnet würde, müßte er sich nach wenigen Tagen bei seinem Ersatzbataillon in Thüringen als Offizierstellvertreter einfinden. Sie sollte nicht allein in Göttingen bleiben, sondern bei ihrem Vater in Breslau das Ende des Krieges erwarten. Und da Richard meinte, daß bald nach Beginn der Mobilmachung die Bahnen für den Privatverkehr gesperrt würden, sollte sie schon heute abend abreisen. Ob ich mitfahren wolle. Ich überlegte einen Augenblick. Göttingen lag im Herzen Deutschlands und hatte wenig Aussicht, einen Feind zu Gesicht zu bekommen, es sei denn als Gefangenen. Breslau dagegen war nur wenige Stunden von der russischen Grenze entfernt und war die wichtigste Festung des Ostens; es war nicht ausgeschlossen, daß es bald von russischen Truppen belagert würde. Mein Entschluß war gefaßt. Ich klappte die „Welt als Wille und Vorstellung“ zu; seltsamerweise habe ich das Buch nie wieder vorgenommen. Es war jetzt etwa 5 Uhr, um 8 ging unser Zug. Ich hatte noch viel bis dahin zu erledigen. So sagte ich, wenn ich mit allem fertig würde, wollte ich um 18 Uhr bei Courants sein, um mit ihnen zur Bahn zu fahren. Damit trennten wir uns. Ich glaube, mein erster Weg war jetzt zu Toni Meyer. Ich durfte sie nicht allein zurücklassen. Sie konnte sich freilich nicht so schnell entschließen wie ich. Da ich keine Zeit hatte, das Ende ihrer Bedenken abzuwarten, bestellte ich auch sie zu Courants, falls sie sich fürs Mitfahren entschied. Sie ging nun zu andern schlesischen Freunden (Professor Lichtwitz und Frau), um sich weiter beraten zu lassen. Ich setzte meinen Weg fort: zur Bank, um Geld zu holen, zum Mittagtisch, um meine Monatsrechnung zu bezahlen, dann zu Reinach. Ich ließ mir sein Kolleg und Seminar testieren. Er tat es, sagte mir aber, ich brauche mir sonst nirgends mehr Testate zu holen, es werde später niemand danach fragen. Er erkundigte sich, was ich

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 212. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/231&oldid=- (Version vom 31.7.2018)