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Hier führte die gemeinsame Arbeit zu etwas mehr als fröhlicher Kameradschaft. Lotte Winkler war wohl auch gern lustig, aber sie hatte tiefgehende wissenschaftliche Interessen. Außerdem hatte sie persönlich Schweres zu tragen und sprach sich mit mir darüber aus: sie war Protestantin, war aber mit einem jüdischen Rechtsanwalt verlobt, dessen Vater entschieden gegen die Heirat war. Wir blieben nach ihrer Verheiratung noch längere Zeit in Briefwechsel.

In diesem Sommer kam Pauline Reinach nach Göttingen, um ihr Studium zu beginnen. Sie besuchte nun mit ihrer Schwägerin zusammen das Kolleg ihres Bruders. Persönlich lernte ich sie wohl zuerst bei der üblichen Semesterschluß-Einladung bei Husserl kennen. Sie war in Gesellschaft überaus temperamentvoll, witzig und schlagfertig. Aber wenn man allein mit ihr sprach, bekam man Einblick in eine tiefe, stille und wahrhaft beschauliche Seele. Ihr Kopf erinnerte an gotische Holzskulpturen, und ihre Hände waren so zart und beseelt wie die einer präraffaelitischen Heiligen. Dem entsprach auch die Art, wie sie ihr Studium auffaßte. Sie hatte klassische Sprachen gewählt und konnte sich mit ganzer Seele in einen Schriftsteller vertiefen, der ihr Freude machte; ein schulmäßiges Arbeiten für praktische Zwecke lag ihr ganz fern. Ihr Bruder Ado pflegte scherzend von ihr zu sagen: „Paulinchen – eine Welt für sich!“ Und Hein, der Jüngste der drei Geschwister Reinach, rief ihr einmal zu, als er sie still dasitzen und vor sich hingucken sah: „Pauline, nimm wenigstens ein Buch in die Hand!“ Wenn man ein paarmal mit ihr in der Familie zusammengewesen war, fing man ganz von selbst an, sie mit ihrem Vornamen zu nennen. Es kam einem unnatürlich vor, „Fräulein Reinach“ zu ihr zu sagen.

Noch einige andere Leute waren in diesem Sommer neu nach Göttingen gekommen. Reinach berichtete mir gleich darüber, als ich ihn am Anfang des Semesters besuchte. Ein russischer Professor wollte die Phänomenologie an der Quelle studieren, ein General a.D. von Gründell und ein junger Herr von Baligaud. Der General, ein kleiner weißköpfiger Herr, durfte natürlich nur am Anfängerseminar teilnehmen. Er war sehr bescheiden im Auftreten, seine Fragen kamen aber immer noch in kräftigem, militärischem Ton heraus. Herr von Baligaud meinte es ernst mit dem Studium; er nahm an allem teil, was es gab, auch an der Philosophischen Gesellschaft. Wenn er noch etwas zu selbstbewußt und naseweis daherredete, wurde er von Reinach sehr bestimmt in seine Schranken gewiesen, und gegen Ende des Sommers zeigten sich schon die Früchte dieser Erziehung.

In diesem Semester kam auch Hering für einige Wochen, um sein Staatsexamen zu machen. An jenem Abend bei Husserl wurde die

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 209. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/228&oldid=- (Version vom 31.7.2018)