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etwas auf, um sich erst in aller Ruhe vorzubereiten. Über alle Prüfungsbedingungen, um die ich mich nie gekümmert hatte, wußte sie genau Bescheid. So erfuhr ich, daß Lehmann sich bei der mündlichen Prüfung genau nach seinen Vorlesungen richte, daß man bei ihm zwei seiner großen und eine der kleineren Vorlesungen als Spezialgebiet angeben müsse; außerdem habe man in der Geschichtsprüfung auch Kenntnis des Griechischen nachzuweisen, wenn man nicht vom humanistischen Gymnasium käme; Lehmann pflegte stets den Anfang Xenophons Anabasis vorzulegen. (Diesen Anfang konnte ich auswendig, noch von dem Breslauer Anfängerkursus her). Wir wählten als Spezialgebiete die Zeit des Absolutismus und das Revolutionszeitalter, ferner die Revolution von 1848/49, aus der wir unsere Staatsarbeiten hatten. Wir arbeiteten unsere sorgfältigen Kollegnachschriften miteinander durch. Die angegebenen Quellenschriften und die wichtigsten Werke über jene Zeitabschnitte ließen wir uns aus der Bibliothek wagenweise in den Lesesaal fahren. Es war unmöglich, alles ganz zu lesen, aber wir wollten doch die Sachen alle einmal gesehen und in der Hand gehabt haben. Soviel sich bewältigen ließ, nahm ich mit nach Hause und las es in den Abendstunden oder sonst zu einer Zeit, in der ich zu anstrengenden Leistungen nicht mehr fähig war. Viel Ranke habe ich damals gelesen, besonders die Staatengeschichten mit großer Freude. Dazu Voltaire, Rousseau, Montesquieu und noch viele andere. Es gab ein großes, farbenreiches Bild, eine wirkliche Berührung mit dem geschichtlichen Leben. Sehr vergnüglich war das gegenseitige Abhören. An schönen Tagen liefen wir dabei über die Göttinger Hügel. Ich kam nun auch hinter die Technik der Examenspaukerei. Die wichtigsten Tatsachen in unsern Heften mußten rot unterstrichen werden, eine noch engere Auswahl rot und blau, die engste rot, blau und grün. Mit dieser Hilfe konnte man in den allerletzten Tagen unglaublich viel noch einmal überfliegen und kam tatsächlich dahin, daß man so ziemlich alles bei der Hand hatte, als es galt.

Wenn wir abends zusammen arbeiteten, luden wir uns schon zum Nachtessen ein. Bei Käthe Scharf war das besonders gemütlich. Sie hatte nämlich ihre Mutter bei sich, die richtig Haushalt für sie führte. Diese gute Frau war mit ihrem Kind auf die Universität gekommen und ließ lieber ihren Mann allein daheim als die Tochter in der fremden Stadt. Das kam mir sehr merkwürdig vor, und der Vater tat mir immer leid. Aber wahrscheinlich waren beide Eltern sich darin einig, daß sie ihr Kind so vor den Gefahren des Studentenlebens schützen wollten.

Philosophiegeschichte und Germanistik arbeitete ich mit Lotte Winkler, die ich im Psychologischen Institut kennen gelernt hatte.

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 208. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/227&oldid=- (Version vom 31.7.2018)