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stets mit warmer Herzlichkeit aufgenommen worden. Toni lebte allein mit ihrer Mutter, einer überaus klugen, alten Dame. Sie hatte nach dem Tode ihres Mannes dessen blühendes Geschäft – Militäruniformen– übernommen und mit großer Umsicht geführt. Jetzt war längst ihr einzige Sohn Inhaber und Leiter, sie war aber noch an dem Gewinn beteiligt. Heereslieferungen während des Siebziger Krieges hatten ihnen ein beträchtliches Vermögen eingetragen. Auch jetzt machte alles bei ihnen den Eindruck großer Wohlhabenheit, aber frei von allem Protzentum. Wenn ich zu einer Mahlzeit bei ihnen war, freute ich mich an dem schön gedeckten Tisch, dem feinen Porzellan und Leinen. Die alte Dame machte selbst noch die kunstvollsten Handarbeiten. Ihr Nähtischchen stand auf einem erhöhten Platz am großen Fenster des behaglichen Speise- und Wohnzimmers. Sie ging nicht sehr viel aus, weil sie einen lahmen Fuß hatte. Immerhin bewegte sie sich an ihrem Stock sehr sicher und lehnte fremde Hilfe ab. Sie liebte anregende Unterhaltung. Ihr Sohn, seine Frau und seine fünf Kinder besuchten sie häufig, ebenso eine Reihe von Freundinnen, die ihre bestimmten Tage hatten. Ihr Haushalt ging wie am Schnürchen, die beiden Dienstmädchen wurden aufs genaueste unterwiesen und angeleitet, dafür allerdings auch mit Güte und Freigebigkeit behandelt.

Schrägüber von Frau Meyers Arbeitplatz hing an der Wand ein Ölgemälde – ein Kinderbild von Toni. Es war ein ungewöhnlich schöner, zarter und durchgeistigter Kinderkopf. Aber von dieser Jugendschönheit war zur Zeit, als ich sie kennenlernte, kaum etwas übrig geblieben als das reiche, wellige, kastanienbraune Haar. Sie trug es schlicht gescheitelt, die langen Zöpfe waren so aufgesteckt, daß sie den Hinterkopf bedeckten. Die Lider lagen schwer auf den Augen, der Gesichtsausdruck war manchmal sehr müde, mitunter wechselte er plötzlich und überraschend. Sie war gut mittelgroß, die Gestalt kräftig und ebenmäßig, aber der Gang so schwer und schleppend, als ob die Füße gefesselt wären. Ihre Kleidung war immer geschmackvoll und von vorzüglichem Material, aber einfach und unauffällig. Sie konnte sehr lebhaft und fröhlich, ja übermütig sein, aber wenn sie eine Stunde angestrengt gearbeitet oder angeregt gesprochen hatte, mußte sie sich für ein paar Minuten hinlegen; dann ging es wieder weiter. Sie hatte eine große Liebe zu Kindern und jungen Menschen. Vor Jahren hatte sie versucht, einen Kindergarten zu leiten, es war aber zu anstrengend für sie. Psychologische Studien führten sie zu Stern; bald war sie in seiner Familie zu Hause und stellte aus Frau Sterns Tagebüchern das Buch „Aus einer Kinderstube“ zusammen. Nun war sie durch Moskiewicz auf die Phänomenologie hingewiesen worden und hatte den kühnen Entschluß

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 205. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/224&oldid=- (Version vom 31.7.2018)