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hätte, so hätte ich ihm sofort geglaubt. Vor einer Schwierigkeit blieb ich bewahrt: ich brauchte kaum je nach Worten zu suchen. Die Gedanken formten sich mir wie von selbst leicht und sicher zum sprachlichen Ausdruck und standen dann so fest und bestimmt auf dem Papier, daß der Leser von den Schmerzen dieser geistigen Geburt keine Spur mehr fand. Ich verbrachte jede Stunde, die ich dafür erübrigen konnte, an meinem kleinen Schreibtisch. Nach Ablauf der drei Wochen hatte ich etwa 30 große Aktenseiten voll.

Nun ging ich zu Reinach. Es war am Morgen. In seinem Arbeitszimmer war noch der Frühstücktisch gedeckt. Ich hatte mein Manuskript mitgebracht und wollte Reinach bitten, es dazubehalten und durchzulesen. Zu meiner großen Überraschung forderte er mich auf, dazubleiben; er wolle es sofort lesen. Mir gab er indessen Hegels „Phänomenologie des Geistes“, die gerade auf seinem Schreibtisch lag, zur Unterhaltung. Ich schlug das Buch auf und versuchte, etwas zu lesen, aber es war mir unmöglich, meine Aufmerksamkeit darauf zu richten. Es war doch zu aufregend, dabeizusitzen, während mein Richter sich den Urteilsspruch über mein Werk zu bilden suchte. Er las eifrig, nickte manchmal beifällig, ließ auch bisweilen einen Ausruf der Zustimmung hören. Erstaunlich schnell war er fertig. „Sehr schön, Fräulein Stein“, sagte er. War es möglich? Ja, er hatte wirklich nichts auszusetzen und redete mir nur zu, die Arbeit nicht zu unterbrechen. Ob ich nicht in Göttingen bleiben könnte, bis ich fertig wäre? Zu Hause wäre ich doch gewiß nicht so ungestört. Er wisse ja, wie es sei, wenn er nach Mainz komme. Dann müsse man alle Tanten besuchen. Ich war sofort entschlossen, seinem Rat zu folgen. Er war eben im Begriff, zu seinen Eltern nach Mainz zu fahren, aber nur für etwa acht Tage. Wenn ich fertig wäre, könnte ich ihm den zweiten Teil meiner Arbeit bringen.

Die Ferien begannen, und Göttingen wurde leer. Ich blieb allein zurück und saß in meinem Stübchen am Schreibtisch. Da ich keine Vorlesungen mehr hatte, konnte ich fast ohne Unterbrechung schreiben. Nach einer Woche war ich fertig. Es war etwa acht Uhr abends, ein feiner Regen begann herabzurieseln. Aber ich konnte es nicht mehr im Zimmer aushalten, ich mußte hinausgehen und feststellen, wann Reinach zu erwarten sei. Als ich zum Steinsgraben kam, bog gerade eine Taxe vom Friedländerweg her ein und fuhr die Straße hinauf. Sie hielt vor Reinachs Haus – einige Augenblicke später wurde in seinem Arbeitszimmer Licht. Nun wußte ich genug. Ich machte auf dem Absatz kehrt und ging heim. Mit welcher Freude und Dankbarkeit, das vermag ich nicht zu sagen. Noch heute, nach mehr als zwanzig Jahren, spüre ich etwas von dem tiefen Aufatmen.

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 202. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/221&oldid=- (Version vom 31.7.2018)