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Untere Karspüle war ein enges, gewundenes Gäßchen. Hier wohnte Lipps in einem kleinen Häuschen bei Frau Maaß, einer Tischlersfrau von wenig einnehmenden Manieren, vor der er sich sehr fürchtete. Solange Hering in Göttingen war, hatte er auch hier gewohnt; wenn ich mich recht erinnere, auch noch einige ältere Phänomenologen. Wir stiegen eine sehr steile und enge Treppe hinauf und kamen in das „Arbeitszimmer“: ein winziges Stübchen mit spärlichem und armseligem Hausrat. Lipps stieß mit dem Kopf fast an die Decke, und wenn er in der Mitte des Zimmers die Arme ausbreitete, berührten seine Hände fast die Wände. Ein kleines Türchen führte in das noch winzigere Schlafkämmerchen. Ich mußte mich in die Sofaecke setzen, Lipps zog einen weißen Ärztekittel an, stopfte sich eine Pfeife, setzte sich an seinen kleinen, gelben Klapp-Schreibtisch und sah mich aus seinen großen, runden Augen erwartungsvoll an. Jetzt gab es kein Entrinnen: ich mußte Rede und Antwort stehen, was ich mir unter Einfühlung dächte. Er schien nicht sehr befriedigt und hatte Einwände. Als ich aber sagte, Reinach habe mir zugestimmt, rief er lebhaft: „Dann durchstreichen Sie alles, was ich gesagt habe. Vor Reinach habe ich den größten Respekt“. Mit Reinach hatte ich zu Ende des Sommersemesters gesprochen, ehe ich es wagte, Husserl das Thema vorzuschlagen, und er hatte mich dazu ermutigt. Die Unterredung mit Lipps wirkte aber doch niederschmetternd auf mich. Ich kam mir im Vergleich zu ihm noch wie ein Neuling in der Phänomenologie vor, und der Eindruck verstärkte sich, daß ich mich an etwas herangewagt hätte, was über meine Kräfte ging.

Ich traf Lipps damals manchmal mit einem seiner Bekannten beim Mittagessen. Ich hatte in jenen Monaten kein Stammlokal, sondern ging – wenn überhaupt – dann zu irgendeinem Mittagtisch, der mir gerade am Weg lag. Wenn die beiden mich bemerkten, mußte ich mich mit an ihren Tisch setzen; das war dann auch eine kurze Zeit der Entspannung. Einmal entschuldigte sich Lipps, daß er mich hinterher nicht nach der Schillerstraße begleitete. Er müsse jetzt schnell nach Hause gehen und sich schlafen legen. Er probiere es eben aus, möglichst viel zu schlafen und die übrige Zeit ganz konzentriert zu arbeiten. Auf 14 Stunden Schlaf habe er es schon gebracht, er hoffe aber allmählich bis zu 21 zu gelangen. Er führte in jenem Winter den Vorsitz in der Philosophischen Gesellschaft; gegen Ende des Semesters mußte er die Vorbereitungen für Schelers Gastvorlesungen treffen und war sehr dankbar, daß ich auch meine Bekannten darauf hinwies. Im Sommer aber wollte er nicht wiederkommen, er wollte dann zu Hering nach Straßburg gehen. Es tat mir sehr leid, als ich das hörte. Ich dachte, ich würde mir noch verlorener vorkommen,

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 199. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/218&oldid=- (Version vom 31.7.2018)