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Nacht keine Ruhe. Damals habe ich das Schlafen verlernt, und es hat viele Jahre gedauert, bis mir wieder ruhige Nächte geschenkt wurden.

Nach und nach arbeitete ich mich in eine richtige Verzweiflung hinein. Es war zum erstenmal in meinem Leben, daß ich vor etwas stand, was ich nicht mit meinem Willen erzwingen konnte. Ohne daß ich es wußte, hatten sich die Kernsprüche meiner Mutter: „Was man will, das kann man“ und „Wie man sich’s vornimmt, so hilft der liebe Gott“ ganz tief in mir festgesetzt. Oft hatte ich mich damit gerühmt, daß mein Schädel härter sei als die dicksten Mauern, und nun rannte ich mir die Stirn wund, und die unerbittliche Wand wollte nicht nachgeben. Das brachte mich so weit, daß mir das Leben unerträglich schien. Ich sagte mir oft selbst, daß das ja ganz unsinnig sei. Wenn ich die Doktorarbeit nicht fertig brächte – fürs Staatsexamen würde es doch wohl reichen; und wenn ich keine große Philosophin werden könnte, dann doch vielleicht eine brauchbare Lehrerin. Aber die Vernunftgründe halfen nichts. Ich konnte nicht mehr über die Straße gehen, ohne zu wünschen, daß ein Wagen über mich hinwegführe. Und wenn ich einen Ausflug machte, dann hoffte ich, daß ich abstürzen und nicht lebendig zurückkommen würde.

Es ahnte wohl niemand, wie es in mir aussah. In der Philosophischen Gesellschaft und in Reinachs Seminar war ich glücklich bei der gemeinsamen Arbeit; ich fürchtete nur das Ende dieser Stunden, in denen ich mich geborgen fühlte, und den Wiederbeginn meiner einsamen Kämpfe. Einigemal im Semester verlangte Husserl Rechenschaft über den Fortgang meiner Arbeit. Ich mußte dann abends zu ihm kommen. Aber eine Erleichterung brachten diese Gespräche nicht. Wenn ich ein paar Worte gesagt hatte, so fühlte er sich selbst angeregt zu reden und sprach nun so lange, bis er zu müde war, um die Unterredung fortzusetzen. Ich ging fort und konnte mir sagen, daß ich manches gelernt hatte – aber wenig für meine Arbeit. So war auch der gewöhnliche Verlauf seiner Semestersitzungen.

Hans Lipps hatte durch Mos von meinem Thema gehört und ließ mir sagen, er interessiere sich sehr dafür und wolle gern etwas von mir darüber hören. Einmal nach Husserls Seminar bat er mich, mit ihm zu kommen. Er führte mich auf dem nächsten Weg zu seiner Wohnung: d.h. im Dauerlauf durch das Botanische Institut, das dem Seminar gegenüberlag und den Botanischen Garten zur „Unteren Karspüle“. Im Institut flüsterte er mir zu: „Wenn wir jemanden begegnen, müssen wir sagen, daß wir Fräulein Ortmann besuchen, denn wir dürfen eigentlich hier nicht durchgehen. Die

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 198. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/217&oldid=- (Version vom 31.7.2018)