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Gärten und die andern schönen Anlagen um die Festhalle wurden als dauernder Schmuck der Stadt erhalten.

Zu Hause wurde ich mit herzlicher Liebe aufgenommen. Meine Zukunftspläne stießen auf gar keinen Widerstand. Ich hatte auch nicht mehr den Eindruck, daß meine Mutter das auswärtige Studium schmerzlich empfand. Als ich von meinen beiden Arbeiten berichtete, war Erna voll Bewunderung für diese selbständigen Leistungen. Ihre eigene Doktorarbeit kam ihr daneben wie ein Kinderspiel vor, da ihr die ganze Fragestellung fertig vorgelegt wurde und nur die Ausführung der Versuche ihr überlassen wurde. In dem alten Freundeskreis erregte meine wissenschaftliche Entwicklung einiges Aufsehen, ich wurde aber genau so wie früher „dazugerechnet“. Stern lud mich immer noch mit dem engsten Schülerkreis zusammen ein und zog mich heran, um eine große pädagogische Tagung und eine damit verbundene psychologische Ausstellung vorzubereiten. Im Mittelpunkt stand eine Auseinandersetzung zwischen Wyneken, der sein Ideal der Erziehung in Freien Schulgemeinden mit radikaler Entschiedenheit vertrat, und Stern, der sich in milderen Formen, aber nicht minder fest für die Familienerziehung einsetzte. Diesmal stand ich ganz auf seiner Seite. Wynekens düsteres Äußere, sein fanatischer Blick stießen mich ebenso ab wie seine Theorien, und die Wikkersdorfer Zöglinge, die er mitgebracht hatte, schienen mir in ihrer blinden Gefolgschaft kein vertrauenerweckendes Ergebnis der Erziehungskunst ihres Führers.

In der zweiten Oktoberhälfte, einige Tage vor Beginn der Vorlesungen, war ich wieder in Göttingen. Ich mietete ein Zimmer in der Schillerstraße, nur um einen Häuserblock von Courants entfernt. Die ganze Straße war neugebaut, das Zimmer modern und geschmackvoll mit weißer Decke, lichtgrauer Tapete und schmaler Goldleiste. Die Wirtsleute gehörten zum guten Mittelstand; Frau Mußmann war weder jung noch hübsch, aber sehr freundlich. Sie versorgte mich, wie ich es bisher gewohnt war, mit Milch zum Frühstück und Tee zum Abendessen. Nach einigen Monaten übernahm sie es auch, mir mittags eine Portion von ihrem Essen zu bringen; damit war ich für wenig Geld viel besser versorgt als in den Gasthäusern. Mein Zimmer lag außerhalb der Wohnung, hatte einen eigenen Eingang vom Treppenhaus; es war im Erdgeschoß, so daß man mir von der Straße mit einem Stock am Fenster klopfen konnte. Richard machte sich manchmal so bemerkbar, wenn er abends aus einem Konzert heimkam und bei mir noch Licht sah. Ich war in diesem Winter sehr einsam. So lange Rose mit mir zusammenlebte, hatten wir beide nichts von Heimweh gespürt. Ich vermißte sie jetzt sehr. Ich vermied es, durch die Lange Geismarstraße

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 193. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/212&oldid=- (Version vom 31.7.2018)