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2.

Anfang August reiste ich also für die großen Ferien nach Hause. Der Sommer 1913 war für Breslau eine große Zeit: Die Jahrhundertfeier der Befreiungskriege. Man hatte sich darum auch gewundert, daß ich gerade dies Semester außerhalb verbrachte. Manches von den Festlichkeiten hatte ich schon versäumt; vor allem das Festspiel, das Gerhart Hauptmann für diesen Zweck geschrieben hatte und das in der ebenfalls eigens neu erbauten „Jahrhunderthalle“, einem Kuppelbau aus Beton und Eisen, damals dem größten der Welt, aufgeführt wurde. Ich hatte die Dichtung in Göttingen gelesen, und die Lösung war mir genial erschienen: die denkwürdigen Begebenheiten, – Preußens Größe, Fall und Erhebung, Napoleons glänzender Aufstieg und sein Sturz – waren mit einem kecken Griff erfaßt, indem sie als ein Puppenspiel dargestellt wurden, wie sie sich, von oben gesehen, ausnehmen mochten. Diese Auffassung hatte aber allerhöchsten Orts Anstoß erregt. Es war ja in Berlin alte Tradition, daß kein Hohenzoller auf die Bühne gebracht werden durfte. Sie nun gar als Puppen auftreten zu lassen, das erschien als offene Majestätsbeleidigung. Der deutsche Kronprinz legte sein Protektorat über die Jahrhundertfeier nieder; um ihn und den Kaiser zu versöhnen, verzichtete die Festleitung auf weitere Aufführungen des Puppenspiels. Der Besuch des Kaisers fiel in die Zeit, während ich in Breslau war. Er hielt sich – wie gewöhnlich – nur sehr kurz dort auf. (Vor Jahren hatte einmal in unserer Stadt eine Frau ein Attentat auf ihn versucht, das mochte ihm den Besuch verleidet haben). Als er das Festgelände besichtigte, stand der Erbauer, Stadtbaurat Berg, bereit, um sich vorstellen zu lassen und ein freundliches Wort zu hören. Aber er wurde nicht beachtet und mußte die schroffen „Worte hören: der Magistrat hätte besser getan, die große Summe, die für diesen Bau verwendet wurde, der Universität zu überweisen. Der gekränkte Baurat wurde Sozialdemokrat. Der Kaiser hatte auch keine Zeit für ein Konzert in der Jahrhunderthalle, bei dem 10000 Volksschulkinder Volkslieder sangen. Der König von Sachsen hatte es sich kurz zuvor angehört und den kleinen Künstlern einige freundliche Worte gesagt. Ich fand das Verhalten des Kaisers unbegreiflich töricht. Ich dachte, mit ein paar Worten hätte er so viele Kinderherzen gewinnen und für ihr Leben zu treuen Untertanen machen können. Aber es war ihm nicht gegeben, solche Gelegenheiten zu erfassen.

Ich habe außer diesen Liederchören in der Festhalle noch manches andere Schöne gehört, z.B. ein großes Bachkonzert auf der eingebauten Riesenorgel. Natürlich sah ich auch die Jahrhundertausstellung. Die ebenfalls neuerbauten Ausstellungshallen, die historischen

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 192. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/211&oldid=- (Version vom 31.7.2018)