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und Geist hatte Husserl davon gesprochen, daß eine objektive Außenwelt nur intersubjektiv erfahren werden könne, d.h. durch eine Mehrheit erkennender Individuen, die in Wechselverständigung miteinander ständen. Demnach sei eine Erfahrung von anderen Individuen dafür vorausgesetzt. Husserl nannte diese Erfahrung im Anschluß an die Arbeiten von Theodor Lipps Einfühlung, aber er sprach sich nicht darüber aus, worin sie bestünde. Da war also eine Lücke, die es auszufüllen galt: ich wollte untersuchen, was Einfühlung sei. Das gefiel dem Meister nicht übel. Allerdings bekam ich nun gleich eine neue bittere Pille zu schlucken: er verlangte, daß ich die Arbeit als Auseinandersetzung mit Theodor Lipps durchführe. Er wollte nämlich gern, daß seine Schüler in ihren Arbeiten das Verhältnis der Phänomenologie zu den andern bedeutenden philosophischen Richtungen der Zeit klarstellten. Ihm selbst lag das wenig. Er war zu sehr von seinen eigenen Gedanken erfüllt, um sich für die Auseinandersetzung mit anderen Zeit zu nehmen. Aber auch bei uns stieß er mit dieser Forderung auf wenig Gegenliebe. Er pflegte lächelnd zu sagen: „Ich erziehe meine Schüler zu systematischen Philosophen, und dann wundere ich mich, daß sie keine philosophiegeschichtlichen Arbeiten machen mögen“. Fürs Erste aber war er unerbittlich. Ich mußte in den sauern Apfel beißen, d.h. daran gehen, die lange Reihe der Werke von Theodor Lipps durchzustudieren.

Das war nun wieder ein folgenschwerer Besuch. Ganz neue Pläne mußten gemacht werden. Aber ich war auch damit schnell fertig. Wenn ich das Staatsexamen vor dem Doktor machen sollte, dann wollte ich es mir so bald wie irgend möglich vom Hals schaffen. Ich hatte jetzt fünf Semester hinter mir. Damit durfte ich mich noch nicht zur Prüfung melden. Die vorgeschriebene Mindestzahl war sechs. Aber ich stammte aus alter Zeit, als noch nicht so viel Stoff zu bewältigen war. Jetzt nehmen sich die meisten Leute 8-10 Semester Zeit. Davon konnte bei mir keine Rede sein. Mein Entschluß war gefaßt: im kommenden Winter mußte der Entwurf der Einfühlungsarbeit fertig werden und ich mußte mit der Vorbereitung zur mündlichen Prüfung so weit kommen, daß ich mich am Ende des Semesters zur Prüfung melden könnte.

Das war das Ergebnis meines ersten Sommers in Göttingen. Anfang August reiste ich für die Ferien nach Hause. Ich weiß nicht mehr, ob ich diese Fahrt mit Rose gemeinsam machte. Für sie war es der endgültige Abschied von Göttingen. Wir gaben unsere Wohnung auf, weil sie für mich allein zu kostspielig war. Ich wollte mir im Herbst ein neues Quartier suchen.


Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 191. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/210&oldid=- (Version vom 31.7.2018)