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Einmal hatte ich das Staatsexamen als etwas sehr Fernliegendes betrachtet, da ich immer die Absicht hatte, zuerst den Doktor zu machen. Und außerdem war ich ja nur für diesen Sommer nach Göttingen gekommen und rechnete mit einem Staatsexamen in Breslau. Freilich, je näher das Semesterende kam, desto unmöglicher war mir der Gedanke, daß ich nun fortgehen und nicht wiederkommen sollte. Diese Monate, die hinter mir lagen, waren doch keine Episode, sondern der Anfang eines neuen Lebensabschnittes. Nun kam mir Hilfe von einer Seite, von der ich sie nicht im mindesten erwartet hatte. Eine fertige Staatsexamensarbeit konnte man doch nicht ungenützt lassen. Das würde auch meinen Leuten einleuchten.

Ich glaube, daß schon auf dem Heimweg von diesem folgenreichen Besuch mein Plan fertig wurde. Ich mußte nun vor allem mein Verhältnis zu Professor Stern in Ordnung bringen. Er bekam einen Bericht über den Verlauf dieses Semesters: An meiner psychologischen Arbeit hätte ich nichts getan, dagegen mich ganz in die Phänomenologie eingelebt; nun sei es mein dringender Wunsch, weiter bei Husserl zu arbeiten. Es kam eine sehr gütige Antwort: wenn ich diesen Wunsch hätte, so könne man mir nur raten, bei Husserl den Doktor zu machen. Auch bei meinen Angehörigen stieß ich auf keinen Widerstand. Nun kam der größte Schritt: ich ging zu Husserl und bat ihn um eine Doktorarbeit. „Sind Sie denn schon so weit?“ fragte er überrascht. Er war gewöhnt, daß man jahrelang bei ihm hörte, ehe man sich an eine selbständige Arbeit heranwagte. Immerhin wies er mich nicht zurück. Er stellte mir nur alle Schwierigkeiten vor Augen. Seine Ansprüche an eine Doktorarbeit seien sehr hoch; er rechne, daß man drei Jahre dafür brauche. Wenn ich die Absicht hätte, Staatsexamen zu machen, dann würde er mir dringend raten, dies erst zu tun, sonst käme ich zu sehr aus meinen andern Fächern heraus. Und er selbst lege großen Wert darauf, daß man in einer Spezialwissenschaft etwas Tüchtiges leiste. Es tauge nichts, nur Philosophie zu betreiben, als solide Grundlage brauche man gründliche Vertrautheit mit den Methoden der andern Wissenschaften. Das stieß zwar alle meine bisherigen Pläne um und machte mir das Herz etwas schwer; aber ich ließ mich durch nichts abschrecken, sondern wollte auf jede Bedingung eingehen. Nun wurde der Meister etwas entgegenkommender. Er hätte nichts dagegen, wenn ich mein Thema jetzt schon wählte und anfinge, daran zu arbeiten. Wenn ich dann mit meiner Vorbereitung zum Staatsexamen weit genug wäre, wolle er mir die Aufgabe für die Staatsarbeit so stellen, daß ich sie nachher zur Doktorarbeit ausbauen könnte.

Nun war also die Frage, worüber ich denn arbeiten wolle. Darum war ich nicht in Verlegenheit. In seinem Kolleg über Natur

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 190. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/209&oldid=- (Version vom 31.7.2018)