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Die Verwirklichung der Parteiprogramme in dem Verfassungsentwurf von 1849. Mein Partner und ich kamen ganz am Schluß des Semesters an die Reihe. Wir hatten uns vorher nicht gekannt; aber da wir nun unter der gleichen Last seufzten, begleitete er mich einigemal nach Hause, um sich unterwegs mit mir über unsere Sorgen auszusprechen. Es war ein kluger und fleißiger Mensch; ich traute seiner Arbeit alles Gute zu. Unsere Aufgabe war mühsam. Man mußte sich über den Aufmarsch der Parteien in der Frankfurter Nationalversammlung genau unterrichten, mußte sich die Programme verschaffen: sie waren nicht alle ohne weiteres zugänglich, wenn auch die meisten in einer handlichen Sammlung abgedruckt waren; eines bekam ich erst nach langem Suchen in einem alten Zeitungsband von 1848 aus der Heidelberger Bibliothek. Und dann kam erst die Vergleichsarbeit. Ich stand das ganze Semester hindurch etwas unter diesem Druck. Endlich kam die Sitzung, in der Lehmann uns aufs Korn nahm. Er tat dies übrigens immer in sehr freundlicher Weise und äußerte sich diesmal auch recht zufrieden über den Verlauf des Gesprächs. Allerdings gab es eine tragikomische Schwierigkeit. Er hatte meine Arbeit nicht ganz entziffern können, weil die Tinte für seine schwachen Augen zu blaß war. Eine ältere Kollegin (studierende Lehrerin) gab mir den guten Rat, Lehmann aufzusuchen und zu fragen, ob ich die Arbeit noch einmal in Maschinenschrift abliefern dürfte. So machte ich mich auf den Weg nach der Bürgerstraße, wo er ein eigenes Haus bewohnte, ein älteres Haus, von einem Garten umgeben. Ich wurde in den Oberstock geführt. Schon der Vorplatz vor seinem Studierzimmer war bis zur Decke mit Bücherregalen umstellt. Lehmann empfing mich sehr gütig. Nein, es sei nicht nötig, die Arbeit abschreiben zu lassen. Er wüßte ja jetzt durch die Besprechung genau Bescheid und sei sehr befriedigt. Überhaupt die Damen! Was würde aus seinem Seminar, wenn er die Damen nicht hätte, die so fleißig und so tüchtig arbeiteten! Das schien mir nun etwas übertrieben und ich fühlte mich verpflichtet, für meine männlichen Kollegen einzutreten: es gäbe doch auch Herren, die etwas leisteten. Er war etwas erstaunt über diese Erwiderung, stimmte mir aber zu. „O ja, einzelne wohl. Ihr Partner z.B. hat ja auch eine gute Arbeit geliefert“. Nun aber kam eine große Überraschung. Lehmann eröffnete mir, da die Arbeit so gut ausgefallen sei, wolle er sie gern als Staatsexamensarbeit annehmen. Einige kleine Ergänzungen könnte ich noch anbringen. Das war keine ungewöhnliche Auszeichnung; Lehmann pflegte gute Seminararbeiten als Examensarbeiten einreichen zu lassen. Aber ich wußte nichts davon, da ich mich bisher um den Göttinger Examensbetrieb kein bißchen gekümmert hatte.

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 189. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/208&oldid=- (Version vom 31.7.2018)