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lachten über die Geheimniskrämerei und freuten uns unseres freien Gedankenaustausches: wir hatten keine Furcht, daß einer dem andern seine Ergebnisse wegschnappen könnte.

Neben der Philosophie war mir in Göttingen das Wichtigste die Arbeit bei Max Lehmann. Ich hatte in Breslau schon sein großes Werk über den Freiherrn von Stein durchgearbeitet und freute mich, ihn persönlich kennenzulernen. Ich hörte sein großes Kolleg über das Zeitalter des Absolutismus und der Aufklärung und ein einstündiges über Bismarck. Ich freute mich an seiner Art, europäisch zu denken, einem Erbteil seines großen Lehrers Ranke, und war stolz, durch ihn eine Enkelschülerin von Ranke zu werden. Mit seinen Auffassungen konnte ich freilich nicht in allem übereinstimmen. Als alter Hannoveraner war er stark antipreußisch gesinnt; der englische Liberalismus war sein Ideal. Besonders stark trat das natürlich in der Bismarckvorlesung hervor. Da mich Einseitigkeiten immer dazu anregten, der Gegenseite gerecht zu werden, wurde ich mir hier mehr als daheim der Vorzüge des preußischen Wesens bewußt und wurde in meinem Preußentum bestärkt.

Ich habe schon erwähnt, daß ich auf Reinachs Übungen verzichtete, um das gleichzeitige Lehmannsche Seminar mitzumachen. Allerdings bereute ich es fast, als ich merkte, welche Arbeitsanforderungen hier gestellt wurden; denn soviel Zeit hatte ich in Göttingen nicht auf das Geschichtsstudium verwenden wollen. Unsere Aufgabe für das ganze Semester war ein Vergleich der damaligen Deutschen Reichsverfassung mit dem Verfassungsentwurf von 1849. Die wichtigsten Bücher für das Studium dieser Frage waren in einem kleinen Arbeitszimmer neben dem großen Übungsraum für unsern Gebrauch zusammengestellt. Ich habe manche Stunde dort zugebracht. Die peinlichste Überraschung aber war, daß jedes neue Mitglied eine große schriftliche Arbeit übernehmen mußte. Die Themen wurden gleich in der ersten Stunde verteilt, und zwar so, daß je zwei – möglichst ein Herr und eine Dame – dasselbe zu bearbeiten hatten. Auch der Ablieferungstermin wurde sofort festgesetzt. In der zweiten Semesterhälfte wurden die Arbeiten in den Seminarsitzungen besprochen. Dazu mußten die beiden Opfer an dem großen hufeisenförmigen Tisch die Plätze Lehmann gegenüber einnehmen und Rede und Antwort stehen. Das war für ihn die Gelegenheit, einen gründlich persönlich kennenzulernen. Er hatte sehr schwache Augen und konnte uns nicht sehen, wenn wir entfernter saßen. Zu Beginn jedes Semesters ließ er sich die Tische aufzeichnen und den Namen jedes Teilnehmers an seinem Platz eintragen. Dann kannte er uns als Funktion unseres Platzes, und wir durften die Reihenfolge nicht mehr ändern. Mein Thema hieß:

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 188. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/207&oldid=- (Version vom 31.7.2018)