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miteinander aussprechen. Darauf verabschiedete sie sich und ließ uns allein weitergehen. Nelson kannte mich vom Sehen aus seinem Kolleg und wollte gern hören, was ich dazu sagte, denn er wußte, daß ich Husserlschülerin war, und es verlor sich nicht oft jemand aus diesem Lager zu ihm. Er selbst kannte Husserls Schriften nicht genau und erklärte, es koste zuviel Zeit, sich in dessen schwierige Terminologie hineinzufinden. Ich fragte, ob er sich nicht einmal mit Reinach auseinandergesetzt habe; das ginge doch leichter. „Reinach ist klarer, aber dafür ist er weniger tief“, lautete die bündige Antwort. Damit war unser Gespräch zu Ende, denn wir waren vor dem Verlag von Vandenhoeck und Rupprecht angelangt, dem er zusteuerte. Es dauerte Jahre, bis ich noch einmal persönlich mit ihm zusammentraf.

Im Psychologischen Institut hörte ich „Psychophysik der Augenempfindungen“ bei Georg Elias Müller, einem Veteranen der alten, rein naturwissenschaftlich verfahrenden Methode. Es war eine Exaktheit darin, die mich anzog und mir vertrauenswürdiger war als das, was ich bei Stern kennengelernt hatte. Aber ich hatte daran nur Freude wie an theoretischer Physik oder Mathematik: es waren Arbeitsgebiete, über die ich mich gern unterrichten ließ, in denen aber für mich persönlich keine Aufgaben lagen. Müller war ein rabiater Gegner der Phänomenologie, weil es für ihn etwas anderes als Erfahrungswissenschaft nicht gab. Husserl dagegen empfahl uns, bei ihm zu hören, weil er Wert darauf legte, daß wir die Methoden der positiven Wissenschaften kennenlernten. David Katz, der als Privatdozent neben Müller im Institut wirkte, hatte sich in seiner Studienzeit auch mit Phänomenologie beschäftigt, und man merkte es seinen Vorlesungen an, daß sie davon befruchtet waren. Durch Moskiewicz und Rosa Heim (mit der er sich später verheiratete) lernte ich ihn auch persönlich kennen. Der Betrieb im Institut war sehr eigenartig. Müller hatte eine ganze Reihe von Schülern, die bei ihm promovieren wollten, obgleich das keine einfache Sache war. Es dauerte oft Monate, ehe man nur die Versuchsanordnung und die nötigen Apparate zusammenhatte. Keiner sagte dem andern, was er für eine Arbeit machte. In den verschiedenen Versuchsräumen des alten Gebäudes in der Paulinerstraße wirkten sie an ihren Maschinen geheimnisvoll herum. Einige Zeit diente ich einem dänischen Psychologen als Versuchsperson. Ich saß im verdunkelten Zimmer vor einem Tachistoskop, bekam nacheinander eine Reihe von verschiedenen grünen, leuchtenden Figuren jeweils einen Augenblick gezeigt und mußte nachher angeben, was ich gesehen hatte. Daran merkte ich, daß es sich um das Wiedererkennen von Figuren handelte, aber näheren Aufschluß erhielt ich nicht. Wir Phänomenologen

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 187. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/206&oldid=- (Version vom 31.7.2018)