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Studium mit größer Teilnahme und hatte Freude daran, daß hier augenscheinlich ein Mensch den Weg gehe, für den er geboren sei. Zur Hausfrau war sie wenig geeignet, ihre ganze Erziehung war nicht darauf angelegt. Als sie einige Monate nach der Hochzeit zur Beerdigung ihrer Großmutter nach Berlin kam, erzählte sie mit viel Humor von allerhand Mißgeschick in dem jungen Haushalt und erklärte: „Die Dinge sind umso komplizierter, je weiter sie sich von der Mathematik entfernen, und der Haushalt ist am weitesten von der Mathematik entfernt“. Richard verkehrte mit ihr in dem neckenden Ton, der ihm überhaupt eigen war. Mit mir verband ihn die nahe Verwandtschaft; ohne es wahr haben zu wollen, hing er sehr an der Familie und fragte mich immer nach allen ihren Mitgliedern. Er sprach auch gern mit mir über die Sorge um seine Eltern, wie er sich früher in Breslau mit meiner Mutter beraten hatte. Auch er zeigte für meinen wissenschaftlichen Werdegang lebhafte Teilnahme.

Ich war der Philosophie wegen nach Göttingen gekommen und wollte ihr hier den größten Teil meiner Zeit widmen. Die andern Fächer aber sollten auch nicht vernachlässigt werden. Da ich ja vorhatte, nur den einen Sommer zu bleiben, wollte ich ihn auch gern ausnützen, um andere Germanisten und Historiker als die Breslauer kennenzulernen. Ein Kolleg über „Börne, Heine und das Junge Deutschland“ bei Richard Weißenfels war mehr Erholung als Arbeit. Auch den gestrengen und gefürchteten Edward Schröder genoß ich sorgenlos als „Phänomen“. Er war ein großer, kräftiger Mann mit breitem, graumeliertem, in der Mitte geteilten Bart. Es war sein Stolz, daß er eine „gewachsene Sprache“ – die Sprache seiner Heimat Hessen – besaß. Noch passender aber schien es mir, wenn er mittelhochdeutsch oder gar althochdeutsch redete –, ich freute mich jedesmal, wenn er in seinem Kolleg eine Textprobe vorlas. Wie sein Schwager Roethe in Berlin war er ein Gegner des Frauenstudiums und hatte bisher keine Damen in sein Seminar aufgenommen. Ich habe aber seine „Bekehrung“ miterlebt. Als er zu Beginn jenes Semesters die Seminarschlüssel an die Mitglieder verteilte – dazu mußten wir einzeln vortreten und ihm mit Handschlag versprechen, kein Buch aus der Seminarbibliothek mit nach Hause zu nehmen – erklärte er öffentlich, von nun an wolle er Damen in die Oberstufe des Seminars zulassen; sie hätten sich das durch ihren Fleiß und ihre tüchtigen Leistungen verdient. Überdies war er ein Gemütsmensch; als er einmal in seiner Vorlesung eines verstorbenen Kollegen gedachte, kamen ihm die Tränen.

Von den Philosophen hörte ich außer den Phänomenologen noch Leonard Nelson. Er war noch jung, kaum über die 30 Jahre alt,

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 185. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/204&oldid=- (Version vom 31.7.2018)