Seite:Edith Stein - Aus dem Leben einer jüdischen Familie.pdf/203

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Privatdozent und verheiratet. Seine Frau, Nelli Neumann aus Breslau, war etwas älter als er. Sie hatte mit ihm zusammen Mathematik studiert, hatte in diesem Fach promoviert und auch ihr Staatsexamen gemacht. Justizrat Neumann hatte sehr lange gezögert, diesem jungen Menschen, der noch keine feste Existenz hatte, sein einziges Kind anzuvertrauen. Vater Neumann war ein überaus gütiger und edler Mensch. Schon seine äußere Erscheinung war vornehm und gewinnend: hochgewachsen, schlank, hellblond und blauäugig, wirkte er keineswegs wie ein Jude aus der Provinz Posen (das war er), sondern eher wie ein germanischer Aristokrat. Da Nellis Mutter starb, als das Kind erst zwei Jahre alt war, hatte er ihr Vater und Mutter sein müssen. Er umgab sie mit der zärtlichsten Liebe, teilte alle ihre Freuden und Leiden, arbeitete mit ihr wie ein Kamerad. Das Glück ihres Zusammenlebens wurde nur gestört durch seine Schwiegermutter, die er nach dem Tode seiner Frau im Hause behielt, obgleich sie ihn und das Kind mit ihren Launen beständig quälte. Sie starb erst, als Nelli bereits verheiratet war. Ich habe früher von der ernsten und schweren Jugend meines Vetters gesprochen. Er hatte sich ganz aus eigener Kraft emporgearbeitet, wir alle hegten die größte Bewunderung für seine ungewöhnliche Begabung und seinen Charakter. Das Vermögen seiner Frau verschaffte ihm zum erstenmal die Möglichkeit eines sorgenfreien Daseins und eines jugendlich unbekümmerten Lebensgenusses.

Ähnlich wie Anne Reinach hatte Nelli mit größter Sorgfalt eine schöne und behagliche Wohnungseinrichtung arbeiten lassen. Das Häuschen in der Schillerstraße, in dem sie zwei Stockwerke bewohnten, lag am Südrand der Stadt, dahinter dehnten sich Gärten und Felder. Dieses schöne Heim stand für eine ungezwungene Geselligkeit offen. Richard liebte es, unangemeldete Gäste mitzubringen. Er hatte einen großen Freundeskreis, Dozenten und ältere Studenten. Auch von seinen Schülern und Schülerinnen brachte er gern jemanden mit, wenn er etwas mit ihnen zu besprechen hatte. Nelli hatte mir ja die Anregung gegeben, nach Göttingen zu kommen, und nahm mich herzlich auf. Ich wurde öfters zum Essen eingeladen; das Badezimmer wurde mir zu beliebiger Verfügung gestellt; überhaupt liebte es Nelli, an dem Guten, was sie besaß, andere teilnehmen zu lassen. Sie war heiter und gesprächig, dabei aber ein Mensch, der allen Dingen auf den Grund gehen wollte. Besonders war sie für ethische Fragen interessiert und unternahm nichts, ohne alle Gründe für und wider eingehend erwogen zu haben. Sie hörte noch etwas Vorlesungen; einmal in der Woche hatten wir ein gemeinsames Kolleg und machten dann den Heimweg zusammen. Sie erkundigte sich dann genau nach allen meinen Angelegenheiten, verfolgte mein

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 184. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/203&oldid=- (Version vom 31.7.2018)