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welchen er meinte. „Er ist der netteste Student in Göttingen. Du wirst ihn bestimmt herausfinden“. Bald danach sah ich auf der Rampe des Auditorienhauses einen Studenten in Sportanzug und ohne Hut stehen. Er schien nach jemanden auszublicken und hatte etwas gewinnend Freies und Ungezwungenes in seiner Haltung. „Das ist Bell“, dachte ich. Und es stimmte auch. Er kam nicht viel mit den andern Phänomenologen zusammen. Die Amerikaner und Engländer in Göttingen bildeten eigene Kolonien und hielten sehr zusammen. Außerdem hatte er einen Freundeskreis, der nicht durch das Fachstudium bestimmt war. Dazu gehörte mein Vetter. Durch ihn erfuhr ich auch Bells Vorgeschichte. Er war ursprünglich Ingenieur, aber bei Fahrten im nördlichen Eismeer – seine Heimat war Halifax – hatte er angefangen zu philosophieren. Er kam dann zunächst zum Studium nach England, später nach Deutschland. Er selbst erzählte mir gelegentlich, daß ihn eine Rezension von Moritz Schlick auf die „Logischen Untersuchungen“ aufmerksam gemacht und nach Göttingen geführt habe. Jetzt war er schon seit drei Jahren da und machte bei Husserl eine Doktorarbeit über den amerikanischen Philosophen Royce. Er war schon 31 Jahre alt, sah aber viel jünger aus.

Als Gegenstand der Besprechungen in der Philosophischen Gesellschaft wählten wir für jenen Sommer das zweite große Werk, das damals im Jahrbuch erschienen war und das auf das gesamte Geistesleben der letzten Jahrzehnte vielleicht noch stärker eingewirkt hat als Husserls „Ideen“: Max Schelers „Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik“. Die jungen Phänomenologen standen sehr unter Schelers Einfluß; manche – wie Hildebrand und Clemens – hielten sich mehr an ihn als an Husserl. Er war damals persönlich in einer sehr üblen Lage. Seine erste Frau, von der er sich scheiden ließ, hatte ihn in München in einen Skandalprozeß verwickelt. Das belastende Material, das dabei zu Tage kam, hatte zur Folge, daß ihm die Universität die Venia legendi entzog. So war ihm die Lehrtätigkeit genommen; außerdem war er ohne festes Einkommen, lebte von seiner Schriftstellerei – meist in Berlin, mit seiner zweiten Frau (Märit Furtwängler) in einem bescheidenen Pensionszimmer, oft auch auf Reisen.

Die Philosophische Gesellschaft lud ihn jedes Semester für ein paar Wochen zu Vorlesungen nach Göttingen ein. Er durfte nicht in der Universität sprechen, wir durften auch nicht die Vorträge durch Anschlag am Schwarzen Brett bekannt geben, sondern konnten nur mündlich darauf aufmerksam machen. Wir mußten im Gesellschaftszimmer eines Hotels oder Cafés zusammenkommen. Auch am Ende dieses Semesters kam Scheler. Zunächst wurden einige Abende der

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 181. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/200&oldid=- (Version vom 31.7.2018)