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Schultätigkeit hinter sich, ehe sie sich entschlossen, zur Universität zu gehen. Sie stammten aus Mecklenburg: Fräulein Gothe aus Schwerin, Fräulein Ortmann von einem Gut. Sie war ein kleines, schmächtiges Persönchen, trat aber mit solchem Gewicht auf, daß ihr Mantel meist bis hoch hinauf von Göttinger Straßenschmutz bespritzt war. Ebenso sprach sie mit großer Eindringlichkeit, aber der Inhalt der Sätze, die wie feierliche Verkündigungen klangen, kam mir oft recht trivial vor. Sie sprach aber nicht oft, sondern hörte in den Seminaren und in der Philosophischen Gesellschaft mit dem Ausdruck schwärmerischer Andacht in ihren großen blauen Augen zu. Bei ihr erschien mir das komisch. Bei Erika Gothe dagegen zog mich die Haltung ehrfürchtigen Schweigens an. Fräulein Ortmann ließ sofort deutlich merken, daß ich ihr sehr unsympathisch sei. Sie selbst erzählte mir später in einer vertraulichen Stunde, Reinach habe ihr einmal eindringlich ins Gewissen geredet, warum sie so unfreundlich gegen Fräulein Stein sei, die sei doch so nett. Sie habe als Begründung angegeben: „Sie redet immer einfach mit. Und die Sachen sind doch so schwer“. Überdies hatte mich Mos gleich in der ersten Sitzung gebeten, die Protokollführung zu übernehmen, und ich hatte mich unbedenklich dazu bereit erklärt. Von den andern schien niemand an meiner Aktivität Anstoß zu nehmen. Sie waren sehr freundlich gegen mich und nahmen meine Diskussionsbemerkungen durchaus ernst. Immerhin hatte Fräulein Ortmanns Verhalten zur Folge, daß es zunächst zu keinem persönlichen Verkehr mit dem ganzen Kreis kam. Sie und Erika Gothe schienen unzertrennlich. Und es wäre die Aufgabe der Damen gewesen, mich näher heranzuziehen. Ich vermißte es in diesem Sommer nicht, weil mein Bedarf an menschlichen Beziehungen durch die Breslauer Bekannten reichlich gedeckt war. Außerdem erfuhr ich erst viel später von dem, was sich außerhalb der Philosophischen Gesellschaft und der Universität abspielte, und konnte daher gar nicht merken, daß ich ausgeschaltet war.

Außer Rose und mir gab es noch einige neu eingeführte Mitglieder. Betty Heymann war eine Hamburger Jüdin, klein und nicht ganz normal gewachsen, das feine, zarte Gesicht etwas entstellt durch zu große Zähne, die schönen Augen ungewöhnlich klug und klar. Sie war Schülerin von Georg Simmel, hatte auch vor, bei ihm zu promovieren, und kam zunächst nur für ein Semester, um auch Husserl kennenzulernen. Ebenso hatte Fritz Kaufmann schon eine philosophische Vergangenheit, auf die er mit einigem Stolz zurückblickte. Er kam aus Marburg von Natorp und hatte schon soviel Neukantianismus aufgenommen, daß ihm das Einleben in die phänomenologische Methode Schwierigkeiten machte. Er war der älteste

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 179. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/198&oldid=- (Version vom 31.7.2018)