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Freude am Philosophieren, die den meisten von uns eigen war, trat bei ihm besonders liebenswürdig hervor. Als er mir einmal etwas aus Husserls Kant-Kolleg erzählte, das ich noch nicht gehört hatte, unterbrach er sich selbst plötzlich und sagte: „Nein, was jetzt kommt, ist zu schön, um es vorher zu verraten. Das müssen Sie selbst hören“. Am meisten Eindruck von allen machte mir Hans Lipps. Er war damals 23 Jahre alt, sah aber noch viel jünger aus. Er war sehr groß, schlank, aber kräftig, sein schönes, ausdruckvolles Gesicht war frisch wie das eines Kindes, und ernst – fragend wie die eines Kindes – blickten seine großen, runden Augen. Er sagte seine Ansicht gewöhnlich in einem kurzen, aber sehr bestimmten Satz. Bat man um nähere Erläuterung, dann erklärte er, mehr liesse sich nicht sagen, die Sache leuchte von selbst ein. Damit mußten wir uns zufrieden geben, und wir waren alle überzeugt von der Echtheit und Tiefe seiner Einsichten, auch wenn wir nicht imstande waren, sie mit zu vollziehen. Wenn er sich in Worten schwer ausdrücken konnte, so sprachen seine Augen und sein lebhaftes unwillkürliches Mienenspiel umso eindringlicher. Er konnte übrigens in jenem Sommer nicht regelmäßig an den Abenden teilnehmen, weil er damals sein Physikum und zugleich – mit einer pflanzenphysiologischen Arbeit – den philosophischen Doktor machte. Das medizinische und naturwissenschaftliche Studium betrieb er zur Ausfüllung der Stunden, in denen man nicht philosophieren konnte. Manches andere lag schon hinter ihm. Er hatte als Innenarchitekt und Kunstgewerbler begonnen, aber das konnte ihn nicht ausfüllen. Immerhin bastelte er auch später noch gern, und ein stark ausgeprägter künstlerischer Zug gehörte zu seiner Natur. Während er als Dragoner im Leibgarderegiment in Dresden sein Jahr abdiente, lernte er die „Logischen Untersuchungen“ kennen, und das wurde für ihn der Anfang eines neuen Lebens. So war er nach Göttingen gekommen. Er war der Einzige aus dem Kreis, der mit dem armen Mos öfters persönlich zusammenkam und ihn lieb hatte. Die andern machten sich heimlich über seine Unsicherheit und seine ewig ungelösten Fragen lustig.

Bei den bisher Genannten war die Philosophie das eigentliche Lebenselement, wenn sie auch anderes außerdem studierten. Dazu kamen einige andere, bei denen es umgekehrt war: ihre Spezialwissenschaft war ihnen die Hauptsache, aber sie wurde von der Phänomenologie wesentlich befruchtet. Dazu gehörten die Germanisten Friedrich Neumann und Günther Müller, die später beide verhältnismäßig früh ein Ordinariat in ihrem Fach erreicht haben.

Auch zwei Damen waren seit einer Reihe von Semestern Mitglieder der Philosophischen Gesellschaft: Grete Ortmann und Erika Gothe. Sie waren erheblich älter als ich; beide hatten schon einige Zeit

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 178. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/197&oldid=- (Version vom 31.7.2018)