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es wagte, selbst den Mund aufzumachen. Ich aber sprach sofort keck mit. Da Moskiewicz bei weitem der Älteste war, übertrug man ihm für dieses Semester den Vorsitz. Aber es war wohl kaum jemand in diesem Kreis, der sich sachlich so unsicher fühlte wie er. Man sah ihm bei den Sitzungen an, wie unglücklich er in seiner Rolle war. Er präsidierte am Tisch, aber die Führung des Gesprächs entglitt ihm jedesmal sehr bald. Unser Versammlungsort war das Haus des Herrn von Heister. Das war ein junger Gutsbesitzer, der es sich zum Vergnügen machte, in Göttingen zu leben, philosophische Vorlesungen zu hören und mit den Philosophen persönlich zu verkehren. Es freute ihn, daß wir bei ihm zusammenkamen, und es störte ihn nicht, daß man seine Diskussionsbemerkungen meist als belanglos unter den Tisch fallen ließ. Seine zarte, blonde Frau war uns allen sehr viel lieber als er. Sie war eine Tochter des Düsseldorfer Malers Achenbach. Zahlreiche Gemälde ihres Vaters schmückten das Haus. Wenn wir kamen – oft genug bei echtem Göttinger Regenwetter mit unseren Mänteln und Schuhen – half uns der Diener mit schweigsamer Höflichkeit beim Ablegen. Aber es war ihm wohl anzumerken, daß er heimlich über die merkwürdigen Gäste den Kopf schüttelte. Auch wenn er uns dann in dem feudalen Eßzimmer Tee oder Wein – je nach Wahl – einschenkte, mußte er manches Ungewöhnliche beobachten. Ich werde es nie vergessen, wie Hans Lipps während eines eifrigen Gesprächs die Asche seiner Zigarre in die silberne Zuckerdose abstreifte, bis unser Lachen ihn aufschreckte.

Die Gründer der Philosophischen Gesellschaft waren damals alle nicht mehr anwesend. Reinach kam nicht mehr, seit er Dozent und verheiratet war. Conrad und Hedwig Martius lebten seit ihrer Verheiratung abwechselnd in München und in Bergzabern (Pfalz). Dietrich von Hildebrand war nach München gegangen, Alexander Koyré nach Paris. Johannes Hering wollte im nächsten Sommer Staatsexamen machen und hatte sich, um ungestörter arbeiten zu können, in seine Heimat Straßburg zurückgezogen. Es waren aber noch einige Leute da, die semesterlang mit diesen Koryphäen zusammengearbeitet hatten und jetzt die Tradition an uns Neulinge weitergeben konnten. Eine führende Rolle spielte Rudolf Clemens. Er war Sprachwissenschaftler. Sein dunkelblonder Bart und seine Krawatten, seine weiche Stimme und seine zugleich gemütvollen und schelmischen Augen erinnerten an die Zeit der Romantiker. Sein Ton war freundlich, aber es war eine Freundlichkeit, die mir kein unbedingtes Vertrauen einflößte. Fritz Frankfurther stammte aus Breslau und studierte Mathematik. Aus seinen braunen Augen schaute kindliche Offenheit, Treuherzigkeit und Güte. Die helle

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 177. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/196&oldid=- (Version vom 31.7.2018)