Seite:Edith Stein - Aus dem Leben einer jüdischen Familie.pdf/192

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

beim ersten Besuch schon viel von diesen Einzelheiten erfaßte. Denn ich hatte nur wenige Augenblicke gewartet, als ich am Ende des langen Ganges einen Ausruf freudiger Überraschung hörte; dann kam jemand im Laufschritt daher, die Tür öffnete sich, und Reinach stand mir gegenüber. Er war kaum mittelgroß, nicht stark, aber breitschultrig. Ein bartloses Kinn, ein kurzes, dunkles Schnurbärtchen, die Stirn breit und hoch. Durch die Gläser des umfaßten Kneifers blickten die braunen Augen klug und überaus gütig. Er begrüßte mich mit herzlicher Liebenswürdigkeit, nötigte mich in den nächsten Klubsessel und nahm selbst schrägüber an seinem Schreibtisch Platz. „Dr. Moskiewicz hat mir von Ihnen geschrieben. Sie haben sich schon mit Phänomenologie beschäftigt?“ (Er sprach mit starkem Mainzer Dialektanklang). Ich gab kurz Auskunft. Er war sofort bereit, mich in seine „Übungen für Fortgeschrittene“ aufzunehmen, konnte mir nur noch keinen Bescheid über Tag und Stunde geben, weil er das erst mit seinen Schülern vereinbaren wollte. Er versprach, mich bei Husserl anzukündigen. „Wollen Sie vielleicht jemanden von der ‚Philosophischen Gesellschaft‘ kennenlernen? Ich könnte Sie den Damen vorstellen“. Ich meinte, er brauchte sich darum nicht eigens zu bemühen, Dr. Moskiewicz würde mich einführen. „Richtig! dann lernen Sie ja bald alle kennen“.

Ich war nach dieser ersten Begegnung sehr glücklich und von einer tiefen Dankbarkeit erfüllt. Es war mir, als sei mir noch nie ein Mensch mit einer so reinen Herzensgüte entgegengekommen. Daß die nächsten Angehörigen und Freunde, die einen jahrelang kennen, einem Liebe erweisen, schien mir selbstverständlich. Aber hier lag etwas ganz anderes vor. Es war wie ein erster Blick in eine ganz neue Welt. Nach einigen Tagen kam eine Postkarte mit der freundlichen Mitteilung, daß die Übungen für Montag abend 6-8 Uhr festgelegt seien. Leider hatte ich für diese Stunden schon etwas anderes, was ich nicht gerne aufgeben wollte: das historische Seminar von Max Lehmann. So verzichtete ich, wenn auch sehr ungern.

Bei Husserl machte ich zunächst keinen Antrittsbesuch in seiner Wohnung. Er hatte am Schwarzen Brett eine Vorbesprechung im Philosophischen Seminar angekündigt. Dort sollten sich auch die Neulinge zur Aufnahme vorstellen. Dort sah ich also zum erstenmal „den Husserl leibhaft vor mir stehen“. Es war nichts Auffallendes oder Überwältigendes in seiner äußeren Erscheinung. Ein vornehmer Professorentypus. Die Gestalt mittelgroß, die Haltung würdevoll, der Kopf schön und bedeutend. Die Sprache verriet sofort den geborenen Österreicher: er stammte aus Mähren und hatte in Wien studiert. Auch seine heitere Liebenswürdigkeit hatte etwas vom alten Wien. Er hatte gerade sein 54. Jahr vollendet.

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 173. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/192&oldid=- (Version vom 31.7.2018)