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Damit komme ich von den vielen Nebenumständen endlich zu der Hauptsache, die mich nach Göttingen geführt hatte: die Phänomenologie und die Phänomenologen. In Breslau hatte mir Mos die Anweisung gegeben: „Wenn man nach Göttingen kommt, geht man zuerst zu Reinach; der besorgt dann alles übrige“. Adolf Reinach war Privatdozent für Philosophie. Er und seine Freunde Hans Theodor Conrad, Moritz Geiger und einige andere waren ursprünglich Schüler von Theodor Lipps in München. Nach dem Erscheinen der „Logischen Untersuchungen“ hatten sie darauf bestanden, daß Lipps dieses Werk mit ihnen in seinem Seminar besprach. Nachdem Husserl nach Göttingen berufen war, waren sie i.J. 1905 zusammen dorthin gekommen, um sich von dem Meister selbst in die Geheimnisse der neuen Wissenschaft einweihen zu lassen. Das war der Anfang der „Göttinger Schule“. Reinach hatte sich als Erster aus diesem Kreise in Göttingen habilitiert und war nun Husserls rechte Hand, vor allem das Bindeglied zwischen ihm und den Studenten, da er sich vorzüglich auf Menschen verstand, während Husserl darin ziemlich hilflos war. Er war damals etwa 33 Jahre alt.

Ich befolgte Moskiewicz’ guten Rat aufs Wort. Ich glaube, schon am Tage nach meiner Ankunft machte ich mich auf den Weg nach dem Steinsgraben 28. Diese Straße führt bis ganz an den Rand der Stadt. Das Haus, in dem Reinachs wohnten, war das letzte. Dahinter dehnte sich ein weites Kornfeld; ein schmaler Fußweg führte daran vorbei zum Kaiser-Wilhelm-Park hinauf, durch den man zum Bismarckturm und in den Göttinger Wald gelangte. Als ich nach Herrn Dr. Reinach fragte, führte mich das blonde Dienstmädchen in sein Arbeitszimmer und nahm meine Visitenkarte, um ihn zu rufen. Es war ein schöner, großer Raum mit zwei hohen Fenstern, dunklen Tapeten und braunen Eichenmöbeln. Die beiden Wände links vom Eingang waren fast bis zur Decke hinauf von Bücherregalen verdeckt. Auf der rechten Seite führte eine große Schiebetür mit bunten Glasscheiben zum Nebenzimmer. Die große Ecke zwischen dieser Tür und dem einen Fenster füllte der mächtige Schreibtisch, und dem Schreibstuhl gegenüber standen Klubsessel für die Besucher bereit. In dem Winkel zwischen den beiden Bücherwänden war eine gemütliche Ecke hergerichtet: ein Tisch, ein Klubsofa und mehrere Sessel. Dem Schreibsessel gegenüber hing an der Wand eine große Reproduktion von Michelangelos „Erschaffung des Menschen“. Es war das behaglichste und geschmackvollste Arbeitszimmer, das ich je gesehen hatte. Reinach hatte ein halbes Jahr zuvor geheiratet, die ganze Einrichtung der ausgedehnten Wohnung war von seiner Frau mit der größten Liebe ausgedacht und nach ihren Weisungen angefertigt. Ich glaube übrigens nicht, daß ich

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 172. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/191&oldid=- (Version vom 31.7.2018)