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blieb uns noch soviel, um heute abend nach Jena hinüberzufahren und von dort aus am nächsten Tage geradewegs nach Göttingen. Ich freute mich, Jena kennenzulernen, und fühlte mich dort viel wohler als in Weimar. Man konnte in aller Stille die Erinnerungsstätten aufsuchen; es war hier alles weniger aufdringlich, und man stieß nicht überall auf ein andächtig staunendes Mädchenpensionat.

Als wir nach unserer Rückkehr die Generalstabkarte bei Courants ablieferten, mußten wir natürlich über unsere Wanderung Bericht erstatten. Wir hätten gern den blamablen Abschluß verschwiegen, aber Richard erkundigte sich sofort nach dem Besuch in Wickersdorf. Er hatte eine besondere Gabe, immer nach dem zu fragen, was man nicht gern sagen wollte.

Diese Fahrt hatten Rose und ich allein unternommen. Sonst hatten wir fast immer noch einen Begleiter mit: Dr. Erich Danziger, Assistent am Chemischen Institut. Er stammte aus Breslau; Rose hatte ihn dort beim Chemiestudium kennengelernt. Er war klein und unansehnlich und etwas linkisch; aber Rose erzählte, er habe die geschicktesten Hände im ganzen Institut gehabt und sei immer zu Hilfe gerufen worden, wenn etwas besonders zart behandelt werden mußte. Es lag immer ein Druck auf ihm, wohl die Folge sehr trauriger häuslicher Verhältnisse: seine Mutter war seit vielen Jahren dauernd in einer Nervenheilanstalt; er und seine einzige Schwester waren fast wie Waisenkinder aufgewachsen. Jetzt schloß er sich ganz an uns beide an, andern Verkehr hatte er kaum. Er war ein herzensguter und treuer Mensch. (Es schien mir, daß er eine stille Neigung für Rose hatte, aber gar nicht zu denken wagte, daß dieses geistvolle und elegante Mädchen für ihn in Betracht kommen könnte). Es bedrückte ihn aber immer etwas, daß er außerhalb der philosophischen Welt stand, in der wir lebten.

Etwas später als wir war auch Georg Moskiewicz angekommen. Er war erheblich älter als wir; im Mai feierten wir zusammen seinen 35. Geburtstag. Er bezog keine Studentenbude, sondern zwei geräumige, gut möblierte Zimmer in dem stillen Kirchweg in der Nähe der Kliniken. So entsprach es seiner Würde als Dr. med. et phil. und angehender Privatdozent. Doch auch für ihn waren wir der menschliche Halt. An unsern Ausflügen nahm er selten teil, weil zu einem solchen Unternehmen ein Entschluß nötig war, und den brachte er nicht leicht fertig. Wenn er aber mitkam, dann war er sehr fröhlich, ja übermütig wie ein kleiner Junge. Bei ihm war es ganz deutlich, daß er eine tiefe Neigung zu Rose gefaßt hatte. Aber wie konnte er es bei der Ungewißheit seiner Zukunft wagen, sie an sich zu binden? Mit mir verband ihn herzliche Freundschaft und das gemeinsame philosophische Interesse.

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 171. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/190&oldid=- (Version vom 31.7.2018)