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Der Regen wurde stärker und stärker, die Landstraße dehnte sich länger und länger, unsere Füße wollten gar nicht mehr weiter, und kein Ort zeigte sich. Rose wurde vor Müdigkeit schweigsam und niedergeschlagen, ich kämpfte darum, bei guter Stimmung zu bleiben. Es war wohl schon acht Uhr, als wir endlich in ein langgestrecktes Dorf kamen. Es schien eine Sommerfrische zu sein, denn es lagen Fremdenpensionen am Wege. Aber, wo wir auch anklopften – es war nirgends ein Platz in der Herberge. Ich raffte mich bei jedem Haus von neuem wieder auf, nachzufragen, aber immer vergebens. Wir waren wohl eine halbe Stunde durch die ganze Ortschaft gegangen, als sich am Ende ein Gasthaus fand, das uns aufnahm. Die Fremdenzimmer waren in einem eigenen Gebäude, dem eigentlichen Wirtshaus gegenüber. Während die Betten für uns gerichtet wurden, gingen wir in die Gaststube. Ein kräftiges, warmes Abendessen weckte unsere Lebensgeister. Den freundlichen Wirt fragten wir, wo wir eigentlich wären. Manebach hieß das Nest. Manebach – das klang so langgedehnt wie der endlose Regen und die endlose Landstraße. Wir hatten schon wieder genügend Humor, um herzlich darüber zu lachen. Sobald unser Zimmer bereit war, schlüpften wir aus den durchnäßten Kleidern und in die warmen Betten. Nun mußte ein neuer Schlachtplan gemacht werden. Wir holten Richards schöne Generalstabkarte hervor – das Überbleibsel einer Truppenübung in Thüringen. Bis zu diesem Abend hatte sie uns trefflich geführt. Wo lag Manebach? Richtig: da war es. Wir waren nur eine Bahnstation von Ilmenau entfernt. Aber der Zeitverlust von heute war nicht mehr einzubringen. Wir verzichteten auf Ilmenau und den Gickehahn und beschlossen, am nächsten Morgen nach Weimar zu fahren. Auch ein Kursbuch hatten wir zur Hand, um den ersten Zug festzustellen.

In Weimar besuchten wir das stattliche Goethehaus am Frauenplan und das reizende Gartenhaus am Stern, das Schillerhaus mit dem rührend armseligen Sterbezimmerchen. Nachmittags gingen wir hinaus nach Tiefurt. Es war ein Sonntag und viele Spaziergänger strömten hinaus. Wir waren etwas kreuz- und lendenlahm von dem vorausgehenden Tagesmarsch und glaubten zu kriechen wie die Schnecken; trotzdem hatten wir bald alle Weimarer Bürger weit hinter uns. Im schönen Park von Tiefurt mußten wir uns auf eine Bank setzen und ein wenig poetisches Geschäft vornehmen: unsere Barschaft zählen. Ich hatte vor der Abreise eine für mich ausreichende Summe von der Bank geholt; aber Rose hatte sich den Weg sparen wollen und nicht genügend vorgesorgt. Nun stellten wir fest, daß der gemeinsame Kassenbestand nicht mehr für Wickersdorf reichte. Wir mußten uns dort telegraphisch abmelden. Dann

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 170. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/189&oldid=- (Version vom 31.7.2018)