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liegt dicht am Wall); und wenn ich drinnen von Heine sprechen hörte, dann dachte ich daran, daß auch er einst auf diesen Bänken gesessen hatte und daß ihm wohl der Göttinger Wall vorschwebte, wenn er in seinen Versen von den „Wällen Salamancas“ erzählte. Ich machte gern einen Spaziergang über den Wall: man sah so schön von dort nach der einen Seite auf die alten Häuser der inneren Stadt, nach der andern auf die Villen und Gärten weiter draußen. An einer Stelle stand auf dem Wall ein altes Borkenhäuschen; das hatte Bismarck als Student bewohnt.

Wenige Tage nach mir kam Rose an, und nun richteten wir uns miteinander häuslich ein. Wir hatten zusammen zwei Zimmer; in einem schliefen wir beide; das größere war unser gemeinsames Wohn- und Arbeitszimmer. Früh brachte uns unsere Wirtin heiße Milch und frische Brötchen; dann rührten wir uns selbst Kakao an. Zum Mittagessen trafen wir uns; wir nahmen es gewöhnlich in einem vegetarischen Speisehaus, das eine süddeutsche Wirtin mit drei netten Töchtern unterhielt. Es war sehr stark besucht. An einer langen Tafel, aus mehreren zusammengerückten Tischen gebildet, saßen die englischen und amerikanischen Studenten; ihre laute und harmlose Fröhlichkeit beherrschte den Raum. Das Abendessen – Tee und belegte Butterbrote – machte, wer zuerst aus der Vorlesung heimkam. Wer spät aus hatte, fand den gedeckten Tisch vor. Ich erinnere mich nicht, daß es in dem Sommer, den wir so gemeinsam lebten, einen Streit oder eine Verstimmung zwischen uns gegeben hätte. Soweit es ihre Zeit erlaubte, nahm Rose an meinen philosophischen Vorlesungen teil; ich trieb auch ein wenig mit ihr Mathematik. Unsere Stundenpläne waren aber doch sehr verschieden. Mittwoch- und Sonnabendnachmittags waren traditionell in Göttingen keine Vorlesungen, weil Studenten und sogar auch Professoren mit ihren Töchtern nach Maria Sprung zum Tanz gingen. Nur die Philosophen Nelson und Husserl nahmen darauf keine Rücksicht. Am Mittwochnachmittag hielt Husserl sein Seminar. Aber den Sonnabendnachmittag hatten auch wir frei. Nach Maria Sprung gingen wir nicht, aber doch – wenn es das Wetter irgend erlaubte – ins Freie. Vorher schrieben wir unsern Wochenbrief nach Hause und abwechselnd an die zurückgelassenen Freunde und Freundinnen. Sonntag waren wir bei gutem Wetter fast immer den ganzen Tag draußen. Manchmal blieben wir auch von Sonnabend mittag bis Sonntag abend fort.

Wir wollten doch in diesem Sommer die mitteldeutsche Landschaft kennenlernen. Das konnte man von Göttingen aus herrlich. Die Stadt lehnt sich im Südosten gegen einen Hügel; auf der Höhe steht der Bismarckturm. Schöne Parkanlagen führen vom Stadtrand hinauf und gehen in den Göttinger Wald über. Den kann man den ganzen

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 168. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/187&oldid=- (Version vom 23.8.2016)