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die französische Hauptstadt gewesen wäre, so hätte keine persönliche Sympathie Wilhelms II. uns vor gleichem Schicksal bewahrt, falls wir den Mut zu gleicher Verteidigung unserer Neutralität gefunden hätten, woran kein Zweifel ist.

Der deutsche Reichskanzler hat das Wort geprägt von der Not, die kein Gebot kennt, und unter formellster Anerkennung des Unrechtes damit den Neutralitätsbruch motiviert. Selbst wenn die nachträgliche Behauptung des vorausgegangenen belgischen Verrates begründet wäre, vom ethischen Standpunkt aus wären die Deutschen nicht entschuldigt. Denn die Kenntnis wäre ihnen zu spät gekommen. An dem offenen Bekenntnis des ersten deutschen Staatsmannes ist nicht zu deuteln. – Aber die angeblichen Beweise für die Schuld Belgiens, die jetzt die Annexion begründen und entschuldigen sollen, sind bei unbefangener Prüfung mehr als fadenscheinig. Der deutsche Plan eines Einbruches in Belgien in einem deutsch-französischen Kriege war 1906 längst durch militärische Schriften bekannt; wenn Belgien sich für den Fall der Defensive der Hilfe Englands, des Garanten seiner Neutralität, versichert hätte, so hätte es seine Neutralität keineswegs verletzt. Denn Neutralitätsbruch bedingt ipso facto Kriegszustand, nach gemeiner Auffassung sogar Anschluss an den Gegner. England gehörte 1906 nicht einmal zu den supponierten Kriegsparteien. Für den aggressiven Charakter der Verhandlungen ist nicht der geringste Beweis erbracht. Tatsache ist, daß im gegebenen Falle der Plan nicht einmal in der Defensive ausgeführt werden konnte. Wir haben wahrlich keine Ursache, ob dieser unbewiesenen und durchaus unwahrscheinlichen Behauptungen dem edlen Volke der Belgier, das seine Neutralität in so heldenhafter Weise verteidigte und sich dadurch den Titel auf seinen Fortbestand errungen, unsere Sympathien zu entziehen. Das wäre Verrat an unserer eigenen Existenz.

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Robert Durrer: Kriegsbetrachtungen. Rascher & Cie., Zürich 1915, Seite 15. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DurrerKriegsbetrachtungen.pdf/17&oldid=- (Version vom 9.12.2016)