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ein genialer Einfall durch mein Gehirn: „Kauf ihm seine ganze Schreibmaschine ab,“ sagte ich zu mir selbst und knüpfte sofort kaltblütig diesbezügliche Verhandlungen an.

Sonnenuhr an einem tibetischen Bergstock. 1/10.

Natürlich war es nicht leicht, das Geschäft zum Abschluß zu bringen. Ich war aber nicht zaghaft, sondern erbot mich, alle Gegenstände, deren jedesmaliger Gebrauch eine Notiz mit roter Tinte hervorzurufen pflegte, meinen Schrittzähler, Kompaß, Krimstecher, Thermometer, selbst meine Uhr zu Hause zu lassen, und als alles nichts helfen zu wollen schien, ihm sogar mein Notizbuch zur Bewahrung anzuvertrauen, was ich um so eher tun konnte, da kaum noch ein freies Blättchen Papier darin zu finden war. Als er dann unschlüssig seinen Blick wie prüfend auf meinem Koffer mit dem Photographierapparat ruhen ließ, wollte ich ihm schon verraten, daß ich überhaupt nur noch zwei unbelichtete Trockenplatten besäße, die ich, in einer Doppelkassette verschlossen, für die wichtige Aufnahme des höchsten Berges der Erde aufgespart hätte; um aber seinen Argwohn nicht zu erregen, zog ich es vor, zu sagen, daß auch dieser Apparat, falls er es wünsche, zurückgelassen werden könne, doch hätte ich gern unterwegs eine Abschiedsaufnahme von ihm, meinem fast allzu getreuen Beschützer, gemacht.

Diese edle Absicht schien meinen Cerberus[WS 1] zu rühren. Entblößt von allen Beobachtungsmitteln mußte ich ihm als ein völlig unverfänglicher Reisender vorkommen, um so mehr, als ich in meiner Tasche nach Kräften mit silbernen Rupien klimperte; mit einem hörbaren Ruck entschloß er sich, ließ mir sein auf S. 310 abgebildetes Tintenfläschchen in die Hand gleiten und folgte mir in weit respektvollerer Entfernung als gewöhnlich.

Als ich im Begriff war abzumarschieren, fuhr vor meinem Bungalo ein königlicher Wagen vor, in dem ich unbelästigt vom Straßenstaub lustig dahinrasseln konnte. Aber schon nach wenigen Stunden hatte das Vergnügen ein Ende, denn von Baladsch[WS 2] an war die Straße nur mangelhaft und endlich gar nicht mehr gepflastert.

Die auffallendste Erscheinung auf dem ganzen Wege war ein überlebensgroßes Wischnubild, das auf dem Boden eines Wasserbeckens[WS 3] lag, woraus in Zeiten der Dürre das Wasser abgelassen wird, um die Gottheit zu veranlassen, schleunigst für Regen zu sorgen. Am Rande dieses sonderbaren Götterbades lagerte eine überaus malerische Schar nepalischer Bergbewohner aus der Umgebung des Gosainthan, deren Häuptling einen jener sehr merkwürdigen tibetischen Alpenstöcke trug, die zugleich als Sonnenuhren dienen. Der Stock ist kantig und hat acht Längsseiten, auf denen die Namen der Monate und Stundenziffern in tibetischen Zeichen eingeschnitzt sind; an seinem oberen Ende befindet sich über jedem Längsstreifen ein Loch, in das ein kurzes Stäbchen hineingesteckt wird, aus dessen Schattenlänge am Stabe die Zeit abgelesen werden kann.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. WS: Cerberus: vergleiche Kerberos
  2. WS: Baladsch: wohl Balaju, heute am nördlichen Stadtrand von Kathmandu
  3. WS: überlebensgroßes Wischnubild: wohl der Tempel bei Budhanilkantha
Empfohlene Zitierweise:
Kurt Boeck: Durch Indien ins verschlossene Land Nepal. Ferdinand Hirt & Sohn, Leipzig 1903, Seite 311. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Durch_Indien_ins_verschlossene_Land_Nepal.pdf/397&oldid=- (Version vom 28.8.2018)