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Weise ausgerüstet sind. Dagegen hege ich gar keinen Zweifel, daß beim richtigen Ineinandergreifen tüchtiger, wohl ausgerüsteter Alpinisten sämtliche Hochgipfel des Himalaja erstiegen werden können, denn nach meinen eigenen Erfahrungen vermag ich an einen mechanischen Ursprung der Bergkrankheit[WS 1], die ja von vielen als das Haupthindernis gefürchtet wird, nicht zu glauben. Nachdem Dr. Berson und Dr. Sühring[WS 2] im Luftschiff mehr als zehn Kilometer hoch in die unsere Erde umhüllende, aber mindestens 150 Kilometer dicke Atmosphäre[WS 3] emporgestiegen sind, ist es nicht ganz unwahrscheinlich, daß sogar der 8840 Meter hohe Gaurisankar-Everest eines Tages von Menschenfuß betreten werden wird. Eine solche Großtat vermöchten freilich nur „Männer von Eisen“ zu vollbringen, die es aushielten, sich diesem Bergkoloß über Samarkand und Chotan[WS 4], also durch Russisch- und Chinesisch-Turkestan und durch Süd-Tibet hindurch zu nähern; von Englisch-Indien aus ist eine solche Annäherung undenkbar, wenigstens so lange Nepal für Europäer ein so verschlossenes Land bleibt wie bisher und so lange Tibet Europäern von allen anderen Seiten außer von der britisch-indischen Zutritt erlaubt.[WS 5] Wie die großartig geplante, von hervorragenden englischen Alpinisten unternommene Expedition zur Bezwingung der höchsten Himalaja-Riesen gleich im Anfang am Mount Godwin Austen[WS 6] bei 6000 Meter Höhe aufgegeben werden mußte, ist in No. 226 der Wiener „Ostdeutschen Rundschau“ vom Jahre 1902 mit wohl etwas allzu bitterem Sarkasmus geschildert worden, aber jedenfalls bildet dieser Mißerfolg die denkbar kräftigste Bestätigung, daß ich die Schwierigkeiten einer solchen Himalaja-Reise in meinen „Indischen Gletscherfahrten“ doch wohl nicht ganz so arg „übertrieben“ habe, wie ein englischer Gentleman, dem dies Buch unbequem war, Nichtkennern einzuflüstern versucht haben soll; daß dieser Gentleman jemals selbst unter dem Donner der Steinlawinen die Girthi-Schlucht[WS 7] durchklettert oder gleich mir die November-Kälte auf den Schneefeldern des Himalaja in dem eigenen Marke verspürt hat, möchte ich danach fast bezweifeln.

Auch die mit der Höhe abnehmende Temperatur kann man ebensowenig wie den sich verringernden Sauerstoffgehalt der Luft für ein unüberwindliches Bergbesteigungs-Hindernis betrachten, da sie in beträchtlichen Höhen verhältnismäßig weniger sinkt; zudem gewöhnt sich der Organismus gesunder Bergsteiger bei langem Aufenthalt in hochgelegenen Gebieten an beide Zustände der Atmosphäre überraschend schnell, und aus den Schilderungen der Nordpolfahrer ist bereits zur Genüge bekannt, wie tiefe Kältegrade der Mensch zu ertragen vermag. Schließlich hat ja auch die Ausrüstungstechnik neuerdings in den „selbstkochenden“ Konserven und den Thermophoren[WS 8] ausgezeichnete Hilfsmittel geschaffen, um stets warme Lebensmittel und Getränke bei der Hand zu haben. Daß Alkohol das schlechteste aller Heizmittel für den Menschen abgibt,[WS 9] brauche ich wohl nicht zu betonen.

Um meinen durchaus nicht verhehlten Unmut zu beschwichtigen, den ich über das höfliche aber energische Verbot empfand, den westlich vom Gaurisankar aus Nepal nach Tibet führenden Paß und die ihn umgebenden, noch

niemals von einem Europäer betretenen, der Wissenschaft also noch vollständig

Anmerkungen (Wikisource)

  1. WS: Bergkrankheit: vergleiche Höhenkrankheit
  2. WS: Dr. Berson, Dr. Sühring: vergleiche Arthur Berson (1859-1942) und Reinhard Süring (1866-1950)
  3. WS: 150 Kilometer dicke Atmosphäre: vergleiche Atmosphäre
  4. WS: Samarkand, Chotan: vergleiche Samarqand und Hotan
  5. WS: Annäherung an Mt. Everest vom Norden: dies war die Herangehensweise der britischen Expeditionen von 1921 bis 1938, nachdem der Tibet-Zutritt um 1904 erzwungen wurde; die Erstbesteigung des Everest durch Hillary/Tenzing gelang 1953 jedoch von nepalesischer Seite.
  6. WS: Mount Godwin Austen: vergleiche K2, hier irrtümlich nach Henry Haversham Godwin-Austen benannt
  7. WS: Girthi-Schlucht: Tal der Girthiganga, ein linker Nebenfluss im Oberlauf der Dhauliganga im heutigen Nanda-Devi-Nationalpark
  8. WS: selbstkochende Konserve, Thermophoren: vergleiche Selbsterhitzende Mahlzeit und Isolierkanne
  9. WS: Alkohol als Heizmittel: vergleiche Alkoholkonsum: Unmittelbare physiologische Wirkung
Empfohlene Zitierweise:
Kurt Boeck: Durch Indien ins verschlossene Land Nepal. Ferdinand Hirt & Sohn, Leipzig 1903, Seite 309. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Durch_Indien_ins_verschlossene_Land_Nepal.pdf/395&oldid=- (Version vom 28.8.2018)