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die ich keine Gewaltmaßregeln anwenden durfte. Anderseits schienen die Pilger und Tempeldiener meine Auseinandersetzung mit den boshaften Bestien für eine höchst unterhaltende Theatervorstellung zu betrachten, in die sie weder eingreifen durften noch wollten.

Tempel der Pockengöttin auf dem Swajambunath-Gipfel.
Der Pfau aus Bronze auf der vor dem Tempel stehenden Säule ist gegen die aus dem Gipfelfelsen gebildete, rechts zu denkene Scheitya gewendet, an deren unterem Rande der Verfasser lehnt und die heiligen Affen füttert. Oberhalb der Glocke (links) ein Lingam und Joni-Idol. Das Kind des Tempelwächters bangt vor dem photographischen Apparat und verbirgt sein Gesicht.

Es blieb mir nichts übrig, als am nächsten Tage auf den Swajambunath-Berg zurückzukehren, um die beabsichtigte Aufnahme dieses Teiles der Tempelanlagen mit jener Pfausäule zu machen; ich wollte mir gerade diese nicht entgehen lassen, weil ich dort hinten einen Tempel mit zwei Stockwerken im Newaristil bemerkt hatte, der zwar einer brahminischen Gottheit, der Pockengöttin,[WS 1] geweiht war, in dessen Mauer aber ein Fries von lamaistischen Gebetsmühlen untergebracht war; es ist dies derselbe Tempel, der hinter den um den Bo-Baum gruppierten kleinen Schaityas sichtbar ist. Bei diesem zweiten Besuch hatte ich mich mit einem Beutel voll gerösteter Erbsen versehen, mit deren Hilfe es mir gelang, die Affen an Plätze zu locken, wo sie mir bei meiner Arbeit nicht hinderlich waren. Freilich beging ich bei der Anfertigung dieses Bildes unwissentlich ein arges Versehen, indem ich mich, um zugleich mit den meine Erbsen knabbernden Affen auf die Photographie zu kommen, neben einem prachtvoll aus Bronze gearbeiteten Leogryphen auf eine Art von Geländer niedergelassen hatte, das diesen Tempelteil säumte. Erst durch das betrübte Schelten eines Tempeldieners wurde mir klar, daß die auf dem Geländer angebrachten Verzierungen Messingnäpfe waren, die am buddhistischen Neujahrsfest, das in Nepal jedoch wie in Tibet erst bei Frühlingsanfang gefeiert wird, zu Illuminationszwecken dienen, aber wie alles, was zum Tempel gehört, mit größter Ehrerbietung behandelt werden müssen und jedenfalls nicht als Stützpunkte eines Sitzenden dienen dürfen.

Buddha-Steinbild auf dem Swajambunath-Berge,
dahinter das Kloster; rechts kleine Scheityas und eine „Kuta“-Pyramide. Die Affen warten darauf, sich die Opfergaben anzueignen.

Die genannten Beispiele zeigen wohl zur Genüge, wie innig sich die beiden indischen Kulte in ihren Erscheinungsformen an dieser Stätte durchdrungen haben, denn auch gegenüber dem Tempel der Pockengöttin stehen brahminische Lingam- und Yoni-Idole in rührender Eintracht neben buddhistischen Schaityas. Besonders merkwürdig erscheint das im Vordergrund stehende pyramidenförmige Kuta genannte Gebilde, das ein Mittelding zwischen dem Lingam und der Schaitya ist und beinahe auf den Gedanken kommen läßt, daß selbst die Pyramiden der Ägypter, die ja so vieles mit den Indiern gemein, um nicht zu sagen von ihnen entlehnt haben, nicht nur staunenswerte Grabdenkmäler, sondern stilisierte Lingams ungeheuerster Größe vorstellen sollen; wie nahe der Phallusdienst in Ägypten dem Lingamkultus der Indier verwandt ist, wird wohl mancher Leser bereits bemerkt haben. Auch bei der Aufnahme einer aus Stein gemeißelten Buddhafigur, die hart neben dem Tor eines Tempels mit brahminischen Idolen steht und die angesichts dieser schier grenzenlosen religiösen Duldsamkeit durch ihr stilles Lächeln die Torheit des religiösen Fanatismus anzudeuten scheint, konnte ich einige Affen beobachten, die ein paar mit Körben voll Opferspenden beladenen Newarimädchen nicht von der Seite wichen,

um nach vollzogenem Opfer sofort bei der Hand zu sein; ein besonders

Anmerkungen (Wikisource)

  1. WS: Pockengöttin: Ajima, vergleiche Hariti
Empfohlene Zitierweise:
Kurt Boeck: Durch Indien ins verschlossene Land Nepal. Ferdinand Hirt & Sohn, Leipzig 1903, Seite 306. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Durch_Indien_ins_verschlossene_Land_Nepal.pdf/390&oldid=- (Version vom 10.7.2018)