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ganze Körper mit einer dicken Schicht eines Breies aus Asche und Wasser übertüncht wird, die nach dem Trocknen als dichte, die Wärme schlecht leitende Kruste die Haut vor der Hitze der Flammen beschützt.

Für mich ist es gar keine Frage, daß viele dieser Sonderlinge aus völlig lauteren Beweggründen handeln und ähnlich den Sanyassis denken, die sich freiwillig ihres Reichtums und Behagens begeben, um sich als Besitzlose nur noch religiösen Betrachtungen zu überlassen und von dürftigen Almosen zu leben, und die man auch nicht ohne weiteres zu faulen Bettlern und Tagedieben rechnen darf. Die Lehre des Brahminentums, daß die Götter durch Opfer und Bußübungen sogar zu gewissen Gnadenbeweisen gezwungen werden können, treibt viele von Unglück Bedrohte zu solchen Maßregeln, die nur unserem Gefühl als unbegreiflich und abgeschmackt, dem Hindu aber als höchst zweckmäßig erscheinen. Amtlich verbürgt ist z. B. die Leidenszeit, der sich Schundra Bela,[WS 1] eine junge Indierin, freiwillig unterzog, als ihr an einem Tage der Vater und der angelobte Gatte durch den Tod entrissen wurde, und die zunächst durch eine sieben Jahr dauernde Wallfahrt zu allen heiligen Stätten Indiens Erlösung von ihren Sünden zu finden versuchte, die nach der Volksanschauung diese Verluste verschuldet hatten; daß in solchen Fällen die Pilgerschaft durch die erstaunlichsten Erschwerungen, durch Kriechen, Hüpfen oder Rollen, durch Vermeiden von Hinsetzen oder Hinlegen zu einem qualvollen Bußgange verschärft wird, habe ich auch schon an anderer Stelle erwähnt. Als die junge Witwe aber auch dadurch ihre Seelenruhe nicht wieder gewann, strafte sie sich im Gefühl ihrer vermeintlichen Schuld dadurch, daß sie während der Tageshitze zwischen fünf Feuern hockte, während sie die kühlen Nächte bis an den Hals im Wasser stehend zubrachte.[WS 2] Auch die Willensübungen des Gosain Pranpuri[WS 3], der den Drang spürte, zu einem Radsch-Jogi erhoben zu werden, sind behördlich bezeugt; volle zwölf Jahre seines Lebens brachte dieser regungslos aus einem Fleck stehend zu, in den zwölf folgenden hielt er auch noch die Arme empor, ließ sich dann 1¼ Pahr[WS 4] oder 3¾ Stunden, an den Füßen im Geäst eines heiligen Bo-Baumes hängend, über einem Kuhdüngerfeuer hin- und herschwingen und schließlich sogar noch ebensolange aufrecht in eine trockene Sandgrube einscharren!

Bei diesem Eingrabenlassen kommen wahrscheinlich seitens der Bairagis Kunstgriffe in Anwendung, die auch die asketischen, sich mit unablässigen Grübeleien zermarternden Jogis benutzen, um möglichst wenig durch physische Lebenstätigkeiten von ihrer unausgesetzten Vertiefung in das höchste Wesen und dem unhörbaren Flüstern der mystischen Worte Om Scham Bam Lam Ram Yam Ham[WS 5] abgelenkt zu werden. Die Kunst, den eingezogenen Atem

erstaunlich lange, jedenfalls länger als drei Stunden hindurch, im Organismus aufzuspeichern und damit auszukommen[WS 6], ist meines Wissens der einzige Punkt, der erlaubt, von „Wundern“ zu sprechen, die den indischen Jogis möglich sind. Professor Preyer[WS 7] hat sich an Grund des dürftigen wissenschaftlichen Materials eines noch dazu überaus seltenen Buches von dem

Anmerkungen (Wikisource)

  1. WS: Schundra Bela: vermutlich Chundra Lela, welche erst als Christin Ruhe fand und entsprechend stark im frühen 20. Jahrhundert von Missionaren rezipiert wurde
  2. WS: Bußrituale der Witwe: das Hitzeritual wird Panchatapa genannt, das stehen im Wasser ist auch beim Chhath-Fest üblich (en).
  3. WS: Pranpuri: möglicherweise der Wander-Sannyasi Praun Poori im 18. Jahrhundert (?)
  4. WS: Pahr: vergleiche Pahar (en)
  5. WS: Om Scham Bam Lam Ram Yam Ham: vergleiche Bīja (en), verkürzte Meditationssilben zur Konzentration auf die Chakras; es existieren unterschiedliche Schulen, die verschiedene Silben/Abfolgen verwenden
  6. WS: stundenlanges Atemanhalten: vergleiche Kumbhaka; hier liegt entweder ein kulturelles Missverständnis oder heute tatsächlich widerlegter Wunderglaube vor
  7. WS: Professor Preyer: vergleiche William Thierry Preyer (1841-1897)
Empfohlene Zitierweise:
Kurt Boeck: Durch Indien ins verschlossene Land Nepal. Ferdinand Hirt & Sohn, Leipzig 1903, Seite 290. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Durch_Indien_ins_verschlossene_Land_Nepal.pdf/368&oldid=- (Version vom 2.7.2018)