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Der bedeutendste Lenker Nepals schaffte nach seiner Rückkehr aus England, das er kennen zu lernen für seine Pflicht hielt, im Jahre 1851 auch die bis dahin üblichen gräßlichen Leibesstrafen ab, wie das Abschneiden von Zungen, Ohren und Nasen, welch letzteres jetzt nur noch von einem betrogenen Gatten an seiner ungetreuen Ehehälfte ausgeführt werden darf, der auch das Recht hat, den schuldig befundenen Verführer mit seinem Kukrimesser öffentlich niederzuschlagen, falls dieser nicht die Schmach vorzieht, unter dem Knie des Beleidigten hindurchzukriechen und dadurch seine Kaste einzubüßen; auch kann ihn die Ehebrecherin durch die Erklärung vor dem Todesstreich retten, daß er nicht der einzige gewesen sei, mit dem sie sich vergangen hat.

Offenbar erweckte das Interesse, das ich an allen Einzelheiten der Opferhandlungen vor den in Nischen und Kapellen untergebrachten Götterbildern, ja selbst an den Kleidern und der Ausstattung der sich allmählich um mich Versammelnden nahm, eher Genugtuung als Unzufriedenheit mit meinem Erscheinen; selbst die sich stets in einigem Abstand haltenden Brahmanen schienen Vergnügen daran zu finden, mit welchem Aufgebot von Liebenswürdigkeit ich die fürchterlichsten unter den sonderbaren Heiligen, die in den Pilgerhallen und Felshöhlen der Tempelumgebung hausten, zu überreden suchte, sich in einer Gesamtgruppe von mir aufnehmen zu lassen, da mein kleiner Plattenvorrat bereits dermaßen zusammengeschmolzen war, daß ich zu dieser mir sonst ganz fernliegenden Sparsamkeit geradezu gezwungen war. Ich kannte jedoch die verschiedenen Dschatis und Sekten dieser ungeheuerlichen Erscheinungen nicht genügend, um diejenigen Leute auszuwählen, die unbeschadet ihrer Kastenreinheit in dieselbe Bildergruppe gepaßt hätten, auch überwog die Besorgnis vor dem blanken Auge des Apparates die Anwandlungen von Neugier und Entgegenkommen derart, daß der Erfolg meines höflichen Ersuchens verhältnismäßig gering blieb und mir von den meisten passiver Widerstand entgegengestellt wurde. Bei einem Rundgange, den ich unter der Führung des Sadhus mit dem schneeweiß geschminkten Gesicht zu den Unterkunftshäusern der Wallfahrer und den Standplätzen der Büßer unternahm, sträubte sich mir förmlich das Haar vor Erstaunen über die dort verborgenen Gestalten; ich hatte doch in Asien bereits so manchen wunderbaren Schwärmer kennen gelernt — wobei ich nur an jenen Gebirgsklausner erinnere, dem von einem zahmen Hirsch die Nahrungsmittel aus den nächsten Hirtenplätzen herzugeholt wurden und dessen Bild ich nebst einigen ebenso merkwürdigen büßenden Wallfahrern zu dem Bergtempel Badrinath[WS 1] in meinen „Indischen Gletscherfahrten“ wiedergegeben habe —, hier aber fand ich neben den abenteuerlichsten religiösen Bettlern, die sich bei diesem Tempel ein Stelldichein gegeben hatten, in allen möglichen Schlupfwinkeln Vertreter jener entsetzlichen, durch unglaubliche Mittel sich selber quälenden, fälschlich Fakire genannten Büßer, deren Vorhandensein von vielen Indienreisenden bereits geradezu als Märchen bezeichnet wird, weil denselben

in Britisch-Indien durch Polizeimaßregeln, auch wohl durch die wenig respektvollen Blicke, mit denen die Europäer die Äußerungen ihres religiösen Wahnsinns

Anmerkungen (Wikisource)

  1. WS: Badrinath: vergleiche Badrinath
Empfohlene Zitierweise:
Kurt Boeck: Durch Indien ins verschlossene Land Nepal. Ferdinand Hirt & Sohn, Leipzig 1903, Seite 286. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Durch_Indien_ins_verschlossene_Land_Nepal.pdf/364&oldid=- (Version vom 1.7.2018)