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brahminischen Liebesgottes, andere betrachteten sie als Mahnung an die Tempelbesucher, ihre weltlichen und sündhaften Gedanken hübsch außerhalb des Tempels zu lassen, und noch andere sagten ganz naiv, diese Gruppen seien dort, weil sie den Nepalern besonderen Spaß machten und die lieben Leutchen zum Tempel hinzögen. Diese und andere oft sehr kunstvolle Holzschnitzereien an Tempeln und Häusern haben die Gorkhas dick mit Kalk übertünchen lassen, um ihnen den Anschein von Steinmetzarbeit zu geben; auch hieraus erhellt, wie sehr die Newaris den Gorkhas an Kulturverfeinerung überlegen waren.

Newari-Tempel mit Holzschnitzereien vor dem Königspalast in Katmandu.[WS 1]

Marktplatz in Katmandu.[WS 2]

Der dem Palast zunächst stehende Tempel erhebt sich auf einem Sockel aus Steinblöcken, auf denen ein Spruch in sämtlichen Sprachen Asiens eingemeißelt ist und auf dem sich, als ich ein Bild des Tempels aufnehmen wollte, sofort eine Rotte von Newaris und Gorkha-Soldaten aufstellte, die mich dann auf Schritt und Tritt umschwärmten und wie ein Wundertier angafften.

Von ähnlichen Tempeln ist nun Katmandu, wie alle Städte Nepals, gradezu überfüllt, doch sind viele derselben unvollendet als Ruinen zerfallen; dies hängt mit dem allgemeinen Glauben zusammen, daß derjenige, der ein Werk zu beendigen wagt, dessen Unternehmer vor der Fertigstellung stirbt, demselben binnen drei Monaten in den Tod nachfolgen muß. In diesen überall verstreuten zahllosen Tempelruinen liegt eine der Ursachen, die Katmandu, und mehr noch die beiden anderen alten Hauptstädte Patan und Bhatgaon, zu den malerischesten Städten der Welt machen. Man darf nie vergessen, daß diese dicht beieinander liegenden Städte Residenzen von Newari-Fürsten waren, die nach Nachbarart vielfach miteinander in Unfrieden lebten.

Die ganze Anlage der Stadt mit ihrem scheinbar planlos und wirr durcheinander laufenden Netz schmaler Gassen, die unter allen möglichen Winkeln zusammenstoßen und dadurch enge, winklige Plätze bilden, ist dem malerischen Gesamteindruck außerordentlich günstig. Überdies ist das Aussehen der Häuser im höchsten Grade malerisch und gefällig, da nur das untere Stockwerk aus ockerfarbigen Ziegeln besteht, das obere aber mit altersschwarzem, geschnitztem Holzwerk bekleidet ist. Dadurch nun, daß diese Holzwände nebst ihren Fenstern häufig schräg über die untere Mauer hervorstehen, werden die engen Gassen nach oben hin fast überbrückt, so daß zwischen den einander gegenüberliegenden geschnitzten Dachfirsten nur ein schmaler Himmelsstreifen sichtbar bleibt. Wie außergewöhnlich phantastisch sich eine solche Stadt im Dunkel der Nacht beim flackernden Lichte hin und her getragener Lampen und Fackeln ausnimmt, bedarf wohl keiner Erwähnung.

Und nun vergegenwärtige man sich das bunte, aus allen Stämmen Nepals und den Besuchern aus Indien, Tibet und Afghanistan zusammengewürfelte Menschengedränge, das sich früh und spät durch diese Gassen quetscht und auf dem Marktplatz oder vor den Kramläden in den niedrigen Höhlungen der unteren Häuserteile staut, aus denen plumpe Leitern in die engen, aber überraschend reich ausgestatteten Magazine der Großkaufleute hinausführen; dazu

denke man sich zugleich das Stimmengewirr und den Tag und Nacht aus allen

Anmerkungen (Wikisource)

  1. WS: Newari-Tempel: vergleiche Jagganath-Tempel, weitere Newari-Tempel dieser Gruppe sind Vishnu und Indrapur geweiht.
  2. WS: Marktplatz: vergleiche Durbar-Platz (Kathmandu), das Gebäude im Bild ist der auf S. 270 erwähnte Taleju-Tempel
Empfohlene Zitierweise:
Kurt Boeck: Durch Indien ins verschlossene Land Nepal. Ferdinand Hirt & Sohn, Leipzig 1903, Seite 265. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Durch_Indien_ins_verschlossene_Land_Nepal.pdf/333&oldid=- (Version vom 1.7.2018)