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Mein Bungalo lag dicht bei dem englischen Gesandtschaftsgebäude, für das die Nepaler, als ihnen im Jahre 1816 seitens der Engländer ein „Resident“ aufgenötigt wurde, den denkbar ungesundesten Platz, einen versumpften Schindanger,[WS 1] abgetreten hatten, der, einige Kilometer von der Altstadt gelegen, in dem angenehmen Geruche stand, allnächtlich von bösen Geistern heimgesucht zu werden. Doch mit jener unbegrenzten Rücksichtslosigkeit hinsichtlich des Kostenpunktes, die England auf der ganzen Welt an den Tag legt, sobald es sich um eine eindrucksvolle Repräsentation dieser Nation Ausländern gegenüber handelt, war im Verlauf weniger Jahre aus dem fieberdunstenden Abdeckerplatz ein prächtiger Park, eine der schönsten Stellen des Landes, gemacht worden.

Von hier aus führte allerdings eine fahrbare Straße nach Katmandu, doch leider waren für Geld weder Wagen noch Reitpferde erhältlich, da sich der Hof das Befahren dieser, sowie der anderen im Lande vorhandenen kurzen Fahrstraßen nach Patan und Bhatgaon als ganz ausschließliches Vorrecht vorbehalten hat. Ich mußte mich also auf beständige Fußmärsche gefaßt machen. Dieser Weg nach der Residenz wird durch einen nepalischen Posten aufs genauste überwacht, und kein Nepale darf ihn ohne besondere Erlaubnis des Durbars beschreiten; auch ist durch Kundschafter dafür gesorgt, daß der Durbar sofort erfährt, wenn irgend ein Verdächtiger in die Residenz kommt. Es ist Tatsache, daß indische Pandits und andere Eingeborne, die im Verdacht standen, das Land für den englischen Residenten auszuspionieren, spurlos verschwanden und vermutlich kein ganz schmerzloses Ende gefunden haben.

Auf der Landstraße, in die dieser Weg mündet, fielen mir sofort einige Unterschiede zwischen Nepal und Indien auf. Ich meine nicht nur die durch Ziegelmauern und Schindeldächer viel solider wirkende Bauart der Häuser und die überaus malerischen und für Nepal höchst charakteristischen Tempel mit in mehreren Stockwerken stetig kleiner werdenden Dächern, als vielmehr ein gewisses trotziges und stolzes Zurschautragen der Unabhängigkeit seitens der Männer besseren Standes und das unverschleierte Erscheinen ihrer Frauen und Mädchen, unter denen mir besonders die Newaris[WS 2] durch ihre absonderliche, in Indien nicht übliche Haartracht auffielen. Die Newarimädchen wickeln nämlich das gewöhnlich sehr üppige Haupthaar zu einer länglichen Rolle zusammen, die dann etwa wie eine mehr oder weniger stattliche — man verzeihe gütigst den allein zutreffenden ungalanten Vergleich — Servelatwurst aus dem Kopfe heraussteht. Der überaus bequeme Rock dieser Newarifrauen wird durch ein Tuch gebildet, das hinten mehr als einen Fuß kürzer als auf der Vorderseite geschürzt zu sein pflegt.

Die Bevölkerung Nepals ist nichts weniger als einheitlich, und man weiß von ihr nicht einmal, ob sie vier, fünf oder sechs Millionen Menschen beträgt, und ebenso kann auch der Flächenraum des Landes nur annähernd auf etwa 155 000 Quadratkilometer geschätzt werden; das von mir besuchte „Tal von Nepal“ dürfte etwa eine Viertelmillion Einwohner zählen.[WS 3]

Anmerkungen (Wikisource)

  1. WS: Schindanger: vergleiche Schindanger
  2. WS: Newaris: vergleiche Newar
  3. WS: Bevölkerungszahl: Für das Jahr 1911 wurde eine Zahl von 5,64 Millionen für ganz Nepal ermittelt. Das Kathmandutal hatte 1970 ca. 250.000 Einwohner, 2018 sind es 1,5 Millionen. Die Angabe von 155.000 km² ist eine annähernd exakte Umrechnung der bereits erwähnten 60.000 Quadratmeilen (147.000 ist korrekt).
Empfohlene Zitierweise:
Kurt Boeck: Durch Indien ins verschlossene Land Nepal. Ferdinand Hirt & Sohn, Leipzig 1903, Seite 257. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Durch_Indien_ins_verschlossene_Land_Nepal.pdf/321&oldid=- (Version vom 1.7.2018)