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Schönheit. Ich preise mich wirklich glücklich, diese unheimlich schönen Urwaldbilder auf gemächlicher Fußwanderung mit staunender Bewunderung genossen zu haben, und nicht im dicht verschlossenen Palankin mit Windeseile hindurchgeschleppt worden zu sein, muß aber doch wohl zur Entschuldigung meines Leichtsinns hinzufügen, daß sich meine Natur bis dahin selbst in den gefährlichsten Fiebergegenden Asiens, z. B. in den persischen Wäldern am Kaspimeer,[WS 1] widerstandsfähig genug gezeigt hatte, um einen solchen Fußmarsch wagen zu dürfen.

Bei Semrabassa ist freilich noch wenig von dieser sich nur ganz allmählich entwickelnden Urwaldherrlichkeit zu sehen. Dagegen konnte ich dort zum ersten Male die Awalias[WS 2] beobachten, d. h. die fast vertierten Ureinwohner des Terai, die dasselbe nicht einmal während der Regenzeit, in der kein Verkehr durch das Terai möglich ist, verlassen und die tatsächlich fieberfest geworden sind. In dem wildreichen Dschungeldickicht spähen sie nach verwesenden Tierleichen umher, die ihnen ihre üppigsten Mahlzeiten liefern, und leben im übrigen vom Verkauf von Topfwaren, Rettichen und Kürbissen an die durchziehenden Kärrnerkarawanen.

Das Terai wimmelt von Tieren aller Art, die sich gegenseitig die besten Bissen wegzuschnappen suchen und einander nach dem Leben trachten. Der Geier zerreißt den Kranich, der sich eben ein saftiges Fröschlein aus einem Infusorienbrei herausgespießt hat, und übersieht den auf ihn lauernden Leoparden, dem alsbald ein wild daherstürmender Elefant einen tödlichen Fußtritt versetzt, dabei aber vielleicht unterwegs ein Rhinozeros aus seinem Pfuhle aufscheucht, das dann wutschnaubend dem Rüsselschwinger zu Leibe geht und den ungeheuren Körper aufschlitzt und zerfetzt. In anderen Himalajavorbergen räumt die Büchse englischer Sportsleute gewaltig unter dem Wildstande auf; im nepalischen Terai aber können die Tiere sich ganz nach Herzenslust vermehren oder gegenseitig vernichten, unbekümmert um die blauen Bohnen der Europäer. Nur einmal im Jahre veranstaltet der Maharadschah eine Jagd größten Stils, bei der dann gleich Hunderte von Elefanten gefangen oder gefällt und zahllose wilde Katzen aller Art ihres prächtigen Felles beraubt werden.

Durch die Zusage dreifachen Tagelohnes bewog ich meine Kulis, mir in einem einzigen Tagemarsch von Racksaul über Semrabassa bis nach Bitschako,[WS 3] das sind volle 28 englische Meilen oder 50 Kilometer, zu folgen, wobei ich die trägen Kulis oft stundenweit hinter mir ließ und in der fürchterlich erhabenen Waldwildnis vollkommen allein war. Immer fremdartiger wurden die mich umgebenden Vegetationsbilder. Aus den wunderlichen, verschlungenen Zweig- und Blättermassen waren die einzelnen Bäume schließlich gar nicht mehr herauszufinden; wüst und phantastisch und doch mit schönster Gesamtwirkung waren die Stämme durcheinander gewürfelt, mit Schlingpflanzen verkettet und von Ranken und Orchideen überwuchert. Der moderige, saftstrotzende Humusboden und das rege Schmarotzerleben verrieten, wie kraftvoll die Natur in dieser Zone Vergehen und Entstehen befördert.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. WS: persische Wälder am Kaspimeer: vergleiche Hyrcanischer Wald an der Südküste des Kaspischen Meers
  2. WS: Awalias: Sammelbezeichnung der Hochlandbewohner für die Volksgruppen des Tieflands, Ableitung von Nepalesisch aval für Fieber.
  3. WS: Bitschako: Bichako, heute Amlekhganj (en).
Empfohlene Zitierweise:
Kurt Boeck: Durch Indien ins verschlossene Land Nepal. Ferdinand Hirt & Sohn, Leipzig 1903, Seite 235. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Durch_Indien_ins_verschlossene_Land_Nepal.pdf/299&oldid=- (Version vom 1.7.2018)