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früher nie genügt hatten, das Gewimmel wunderlicher Gestalten zu mustern, das sich auf indischen Bahnsteigen gleich einem bunten Traume kaleidoskopisch durcheinander drängt. Fürwahr, Indien ist und bleibt das interessanteste Land unserer Erde, trotz China und Japan!

Wie gern hätte ich dem Zug ein „Tummle dich!“ zugerufen. Die vierundzwanzig Stunden Fahrzeit schienen mir aus Gummielastikum zu bestehen, und ich konnte mich nicht erinnern, jemals so sehr von Ungeduld geplagt worden zu sein wie auf dieser Fahrt. Doch wenn man irgendwo Geduld lernen kann, so ist es gerade in Indien. Zeit hat keinen sonderlichen Wert für den Hindu, und „komme ich heute nicht, so komme ich morgen“, oder „Eile mit Weile“ sind seine Leitmotive. Darauf schien auch mein Zug alle Rücksicht zu nehmen, besonders als er an eine durch Hochwasser zerstörte Brücke kam, wo der gesamte Bahnverkehr stockte; überall waren Zimmerleute mit dem Zurechtsägen von Stützbalken beschäftigt, denn noch waren die Wassermassen nicht eingetrocknet, die von der Regenzeit durch einen Dammbruch als letzter Abschiedsgruß über die schier endlosen Indigofelder geschüttet waren und maßloses Unheil angerichtet hatten. Bei dem hier nötigen behutsamen, schrittweisen Fahren wurde unsere bereits vorhandene Verspätung natürlich nicht verringert.

Der Boden Nordbengalens oder Tirhuts[WS 1] bietet gerade der Indigopflanze vortreffliche Nahrung, und deshalb befindet sich hier eine ergiebige Indigofaktorei neben der anderen. Wenn auch all diesen Pflanzungen durch die Erfindung des künstlichen Indigos ein lebensgefährlicher Stoß versetzt worden ist, stehen die Indigopflanzer selbst jetzt noch im Rufe unbegrenzter Gastfreundschaft, und wer Talent zum nassauernden Lebemann[WS 2] in sich spürt, kann sich von einem leckeren Tischleindeckdich zum anderen weiter empfehlen lassen. Ich lehnte allerdings verschiedene dahinzielende Einladungen der mit mir reisenden Pflanzer höflichst ab, weil ich mich wirklich nicht sonderlich gelaunt fühlte, den Spaßmacher für trinkfeste Tafelfreunde abzugeben, spähte vielmehr bei der Einfahrt in die Station Segauli mit begreiflicher Unruhe nach dem Naik[WS 3], d. i. Ortsvorsteher, aus, den ich telegraphisch beauftragt hatte, mir die nötigen Lastträger anzuwerben und am Bahnhof bereit zu halten.

Hinter dem Stationsgebäude von Segauli, einem einfachen Ziegelbau, schienen sämtliche Insassen des Dorfes zu meinem Empfange bereit zu stehen, doch stellte mir der Naik nach kurzer Begrüßung diese hundert nackten Dorfteufel als meine Leibgarde für meinen Einzug nach Nepal vor. „Wozu?“ „Nun, der gestrenge Herr Europäer werden sich doch wohl nach Nepal hineintragen lassen? Hier steht Ihr Palankin, dort ein anderer für Ihren Diener, und dahinten noch ein kleinerer Tragkasten zur Beförderung Ihres Koches. Pferde oder Wagen sind hier weder erhältlich noch verwendbar, und zu Fuße können Sie selbstverständlich auch nicht gehen. All diese Leute sind Kahars[WS 4] für Ihre Tragkasten und Kulis für Ihr Gepäck.“ „Aber, my dear Naik, wie

bewegen sich denn diese etwas spärlich bekleideten Herren Träger fort? Etwa

Anmerkungen (Wikisource)

  1. WS: Tirhut: vergleiche Tirhut (en)
  2. WS: nassauernder Lebemann: vergleiche nassauern, Lebemann
  3. WS: Segauli, Naik: vergleiche Sugauli (en), Nayak (title) (en)
  4. WS: Kahar: vergleiche Kahar (en)
Empfohlene Zitierweise:
Kurt Boeck: Durch Indien ins verschlossene Land Nepal. Ferdinand Hirt & Sohn, Leipzig 1903, Seite 225. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Durch_Indien_ins_verschlossene_Land_Nepal.pdf/289&oldid=- (Version vom 1.7.2018)