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Abholung der Braut durch den in feinste Benares-Seidenstickerei gekleideten und so reich wie möglich mit Schmucksachen beladenen Bräutigam. Von zwei mit Fliegenwedeln aus Yakschwänzen ausstaffierten Knaben begleitet, nimmt dieser auf dem Rücken eines prachtvoll aufgeschirrten Staatselefanten oder Paradepferdes Platz und zieht dann mit einem ungeheuren Troß von berittenen Freunden und einer möglichst stattlichen Prozession von Musikanten, Sängern, Fackel- und Symbolträgern nach dem Hause der Braut. Ehe er aber die Schwelle seiner elterlichen Wohnung verläßt, hat er auf die Frage seiner Mutter: „Wo gehst du hin?“ die Antwort zu geben: „Dir deine Dasi, deine Dienerin zu holen!“[WS 1] Darauf wirft sein Vater eine Messingschale voll Reis, ein Büchschen Mennige[WS 2] zum Aufmalen des roten Stirnzeichens und eine Rupienmünze über den Kopf des Knaben in das ausgestreckte Gewand der hinter diesem stehenden Mutter, und diese vorbedeutungsreiche Handlung ist für den Bräutigam das Zeichen, den Zug nach dem Brauthause anzutreten.

Jeder Teilnehmer des Festzuges trachtet danach, ihn durch seine Kleidung so farbenreich und glänzend wie möglich zu machen, und so ist es denn kein Wunder, daß überall ein Zusammenströmen des von dem Getöse der Musikanten und Sängerinnen herbeigelockten Volkes stattfindet. Ich habe selbst wiederholt bei Hindu-Hochzeiten, zu denen ich eingeladen war, an diesem Zuge teilgenommen, weil es gar kein malerischeres Schauspiel geben kann, als die grell von den Fackeln beschienenen Häuser, von deren Balkonen und Fenstern die Insassen mit leuchtenden Augen in lebhafter Erregung und Neugier auf den rauschenden Festtrubel herunterschauen. Selbst sonst nie in der Öffentlichkeit sichtbare ehrbare Frauen werfen bei der allgemeinen Aufregung ihre Scheu ab und blicken, weit über die Fensterbrüstung gelehnt, dem Bräutigamszuge nach, eingedenk des Tages, wo sie selbst in kindischer Unwissenheit durch die Erscheinung eines solchen vor ihrem elterlichen Hause in liebliche Verwirrung gebracht wurden.

Im Hause der Braut empfängt der Bräutigam aus den Händen eines zukünftigen Schwagers oder anderen Verwandten eine Betelnuß, die von ihr bereits den ganzen Tag im Munde getragen wurde und die er nun mit dem ihm am Kajalnatha-Feste verehrten Nußknacker öffnet, wobei er jedoch einiges Zögern und Widerstreben an den Tag legen muß, bis er den Nußkern verzehrt. Er sitzt dabei auf drei rotseidenen Polstern und ist auch auf allen drei Seiten von derartigen Kissen umgeben, vielleicht, um ihm das Fragen und Prüfen weniger unbequem erscheinen zu lassen, wodurch seine neuen Verwandten ihn, sein Wissen und seine Ansichten gesprächsweise kennen zu lernen suchen. Ist diese dem Bräutigam gewöhnlich überaus peinliche Zeremonie beendigt, so wird er, nachdem er ein rotseidenes Kleid angelegt hat, in die Hauskapelle eingeführt, wohin auch die verschleierte, ebenfalls rot gekleidete und überreich mit goldenem Schmuck beladene Braut aus den Frauengemächern geleitet wird und wo die Hochzeitsgaben aufgestapelt liegen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. WS: Dasi: vergleiche Dasi
  2. WS: Mennige: vergleiche Mennige
Empfohlene Zitierweise:
Kurt Boeck: Durch Indien ins verschlossene Land Nepal. Ferdinand Hirt & Sohn, Leipzig 1903, Seite 216. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Durch_Indien_ins_verschlossene_Land_Nepal.pdf/280&oldid=- (Version vom 1.7.2018)