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wohl die mythologische Sage von solchem Selbstopfer der Göttin Kali zur Nacheiferung angespornt haben und nicht minder die Bewunderung, die eine derartige Tat stets hervorrief, sowie die Ehrungen durch Denksteine in Gestalt der Fußabdrücke, die einer auf diesem Weg sich selbst vernichtenden Witwe oder Sati gesetzt wurden. Die entsündigende Macht, die einer liebevollen und mutigen Sati in der Purana zugeschrieben wird, mag schließlich ebenfalls zu dieser Art des Selbstmords getrieben haben, denn in dieser Schrift wird geradezu behauptet, daß eine Sati durch ihr Selbstopfer den Geist ihres Gatten von allen Strafen für seine Sünden erlöst, wären diese auch die denkbar entsetzlichsten gewesen; selbst die Tötung eines Brahmanen könnte dadurch gesühnt werden!

Daß sich die Fälle der Wiederverheiratung von Witwen zu mehren scheinen, ist neuerdings in den indischen Tageszeitungen mit Genugtuung festgestellt worden, was einen offenbaren Wandel in diesen Anschauungen bekundet. Befremdlich für uns ist dabei jedoch die Sitte, daß die Vermählte dann alle Geschenke, die sie von dem früheren Gatten erhalten hat, an dessen Familie überliefert, ebenso wie die jener Ehe entsprossenen Kinder.

Eine der wichtigsten Kultusbestimmungen des Hindutums verlangt, daß die Zeremonien bei und nach dem Begräbnis eines Hindu von einem Sohne vollzogen werden, und niemals vermag ein weibliches Wesen die Seelen der Eltern durch das Totenopfer Sraddha[WS 1] aus der Hölle zu erlösen; daß diese Anschauung auch in dem Kadisch[WS 2] der Hebräer geteilt wurde, ist ebenso auffällig wie andere Ähnlichkeiten in den Ritualen der Rabbiner und Brahmanen. Dieser Bestimmung entsprechend gibt es kein Hinduehepaar, das nicht vor allen Dingen einen männlichen Sprößling ersehnte. Die Geburt eines Töchterchens wird erst in zweiter Linie gern gesehen, für den Fall aber, daß die Familie von hoher Kaste ist, sich jedoch in dürftigen Verhältnissen befindet, wird sie sogar als ein wahres Unglück empfunden. Die dem Kastenrang entsprechende Ausstattung und die ebenfalls von den Eltern der Braut zu tragenden unsinnig hohen Kosten der Hochzeit vernichten häufig den geringen Wohlstand der Familie vollständig, da bei derselben unmäßige Geschenke an die Freunde und Brahmanen verabfolgt werden müssen, wofür erst neuerdings gesetzmäßige Grenzen gezogen wurden. Verspricht überdies das neugeborene Kind ein schwächliches oder gar verkrüppeltes Mädchen zu werden, so ist es gar kein Wunder, daß die besonders bei den Radschputen übliche Tötung neugeborener Mädchen bis in die neueste Zeit ohne Schuldbewußtsein im Schwange blieb und auch wohl jetzt noch durch Nahrungsentziehung erzielt wird. Ebenso mag gar mancher angebliche Tod durch „Schlangenbiß“ in Wirklichkeit durch einen Nadelstich oder etwas Opium bewirkt worden sein, denn merkwürdigerweise ist es in Indien bei Todesfällen durch den Biß giftiger Schlangen nicht überall erforderlich, den Leichnam, wie dies sonst üblich ist, durch den nächsten Bezirksbeamten begutachten zu lassen; die fabelhaften Ziffern der als Todesursachen angegebenen Schlangenbisse mögen wohl vielfach aus anderen Gründen diese Höhe erreichen.[WS 3]

Anmerkungen (Wikisource)

  1. WS: Sraddha: vergleiche Śrāddha (en)
  2. WS: Kadisch: vergleiche Kaddisch
  3. WS: Tötung neugeborener Mädchen: vergleiche Female infanticide in India (en)
Empfohlene Zitierweise:
Kurt Boeck: Durch Indien ins verschlossene Land Nepal. Ferdinand Hirt & Sohn, Leipzig 1903, Seite 210. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Durch_Indien_ins_verschlossene_Land_Nepal.pdf/272&oldid=- (Version vom 1.7.2018)