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spielte. Auch bei uns zu Lande muß eine Frau, wenn die Mittel nicht ausreichende Dienerschaft erlauben, im Hause ebenso herzhaft schaffen und zugreifen wie die indische, und die zartfühlende Behandlung seitens der Herren Gatten mag wohl dabei auch manchmal einiges zu wünschen übrig lassen. Ich bin vollkommen überzeugt, daß unter den indischen Ehen nicht weniger glückliche sind als bei uns, wo Mann und Frau häufig einander erst nach der Hochzeitsreise näher kennen lernen.

Einzelhaushalt an Stelle der Gesamtfamilien, Zwanglosigkeit im öffentlichen Verkehr für die Frauen, Veredelung der Volksanschauungen in Bezug auf die Verwitwung, das also sind die nächstliegenden Forderungen, deren Erfüllung alsbald alles in zweiter Linie Wünschenswerte mit sich bringen wird.[WS 1]

Die einstmals übliche Verbrennung von Witwen mit dem Leichnam des Gatten, die viel dazu beigetragen hat, dem Worte Indien einen Anklang des Unheimlichen zu geben, verdient ebenso wie die Einrichtung der Kinderehe unter Beachtung der besonderen indischen Verhältnisse geprüft zu werden. Diese Selbstopferungen kamen im Verhältnis zu der riesigen Einwohnerschaft Indiens niemals in beträchtlicher Zahl vor und wurden erst etwas häufiger, als die Engländer im Jahre 1815 versuchten, ihre Ausführung durch Polizeivorschriften zu erschweren; hierdurch wurde aber nur ein gewisser idealistischer Trotz unter den Hindus wachgerufen, so daß die Zahl der jährlichen Witwenverbrennungen bis zum Jahre 1828 jählings auf 300 und sogar auf 800 gestiegen sein soll, wodurch der Generalgouverneur Lord Bentinck sich genötigt sah, sie plötzlich und vollständig zu verbieten; zur allgemeinen Überraschung wurde dies völlige Verbot ruhig befolgt, ohne daß die befürchteten Unruhen zum Ausbruch kamen.

Vielfach wird den Brahmanen die Schuld zugeschoben, durch gefälschte Auslegung eines Rig-Weda-Verses[WS 2], der sich auf die Teilnahme der Witwen an der Verbrennungszeremonie für den verstorbenen Gatten bezieht, die Witwen förmlich zur Selbstverbrennung gezwungen zu haben; diese Anschauung widerspricht aber durchaus dem Geiste des Hindutums, das viel zu feinfühlig für so brutale Zwangsmaßregeln ist, ebenso wie ein Fanatismus dieser Art den Brahmanen vollständig fernliegt. Die von einzelnen Reisenden berichteten Fälle von angewendeter Gewalt beziehen sich vermutlich auf die Witwen mohammedanischer Despoten, und sehr wahrscheinlich ist es auch, daß die Brahmanen in jener Weda-Stelle[WS 3] statt agre = zuerst agneh = Feuer gelesen haben, um daraus einen Trostgrund für diejenigen Witwen zu bilden, die durch das Gefühl nunmehrigen Verlassenseins, sowie durch Abscheu und Furcht vor dem kläglichen Witwenlos zum Selbstmordentschluß getrieben waren, von dem sie sich durch keine Überredung zurückbringen ließen. Im Grunde sind diese Witwenverbrennungen jedoch nichts anderes, als eine Fortsetzung der Gewohnheit der Frauen der alten Indo-Arier, die beim Untergang ihrer in der Schlacht gefallenen Gatten das Lager in Brand setzten und sich in die

Flammen stürzten, um nicht in die Hände der Sieger zu fallen. Auch mag

Anmerkungen (Wikisource)

  1. WS: alles Wünschenswerte: vergleiche Eve teasing
  2. WS: Rig-Weda: vergleiche Rigveda
  3. WS: Rig-Weda: vergleiche Rigveda Buch 10 Hymne 18 Vers 7
Empfohlene Zitierweise:
Kurt Boeck: Durch Indien ins verschlossene Land Nepal. Ferdinand Hirt & Sohn, Leipzig 1903, Seite 209. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Durch_Indien_ins_verschlossene_Land_Nepal.pdf/271&oldid=- (Version vom 9.7.2018)